England – Slowakei – 2:1 n.V.
„DIE SELBSTDARSTELLER VON NYON“
30.06.2024
EM-Achtelfinale
Arena „Auf Schalke“
Zuschauer: 47.244
GELSENKIRCHEN – Irgendein Achtelfinale sollte es bei dieser Heim-EM noch werden und nach kurzer Recherche entschied man sich für das K.O.-Spiel von England in Gelsenkirchen. Dieses Spiel am letzten Geltungstag des 49€-Tickets für den Juni, hatte den Vorteil, dass man theoretisch kostenneutral reisen konnte, so denn keine Verlängerung eintreten würde. Für den Fall der Fälle glühten also die Telefondrähte und irgendwie war schließlich jeder für diesen Spieltag versorgt. Denn dank ziemlich geringer Drittmarktpreise war nach und nach die halbe norddeutsche Groundhopping-Gilde in Gelsenkirchen unterwegs.
Aus mehreren Gründen ging die Zugfahrt allerdings erst in Kirchweyhe los, kurz hinter Bremen. Den Zug-Plan, mit lediglich einem Umstieg in Osnabrück, konnte diesmal nicht mal die DB crashen und so wurde man um kurz nach 4 am Hauptbahnhof GE ausgespuckt. Es stand der dritte Besuch in der Arena an. Mein letztes Spiel „auf Schalke“ fand im Herbst 2013 gegen den VfB Stuttgart statt. Jermaine Jones war damals der Mann des Tages mit zwei Treffern.
Wurde mal wieder Zeit. Das dachten sich auch die Engländer und waren schon Stunden vor dem Anpfiff zur Arena aufgebrochen. Mehrere Male musste ich checken, ob meine Uhr wirklich richtig geht, denn in der Gelsenkirchener Innenstadt war kein Mensch mehr unterwegs, knapp zwei Stunden vor dem Spiel. Mangels Stimmung machte man sich schließlich auch auf den Weg nach Buer.
Bis dahin verlief der Tag ohne Zwischenfälle. Nur die frechen Dönerkioskverkäufer sorgten mit ihren Getränkepreisen für Unmut. Die Tommys waren längst abgezogen und es bestand kein Grund mehr für UEFA-Preise vor Ort. Aber: Kein Bier um Vier. Und so ging es ohne obligatorische Blechbüchse in der Hand per Straßenbahn zum Stadion. Dort war – wie erwartet – der Großteil schon eingekehrt. Also blieb noch Zeit für Tagesordnungspunkt xy: Das Papierticket. Die Verlautbarung von der UEFA, dass es keine Hardtickets gibt, stimmt nämlich nicht. Es gibt sie sehr wohl. Aber nur für den Notfall. Und das meint die UEFA auch so. Ich war für den Notfall präpariert und hatte mir vor der Abfahrt noch schnell ein geschrottetes Alt-Handy in den Rucksack gepackt. Meine schauspielerischen Leistungen waren wohl reif für die „Goldene Himbeere“ und so verließ ich den Ticketschalter tatsächlich mit dem begehrten Papierticket.
Für diesen Ticket-Notfall musste ich diverse Fragen beantworten, sogar ein Foto von mir wurde angefertigt. Aber das kaputte Samsung S4 war der Trumpf und spätestens nach der völlig behämmerten Frage: „Bekomme ich jetzt ein Leihhandy von der UEFA?“ war das Ding in trockenen Tüchern. Was das ganze Ticket-Gedöns betrifft, so würde ich die „Goldene Himbeere“ selbstlos an die Selbstdarsteller von Nyon weiterreichen. Von der völlig überlasteten Ticket-Plattform ganz zu schweigen: Warum verkauft die UEFA nicht gegen Gebühr Papiertickets an Sammler? Für den Schaden, den man damit anrichtet und für den guten Ruf, darf man gerne einen Taler von den Erlösen spenden. Bei der letzten EM waren 14€ (!) für ein papierenes Ticket fällig. Da wären ein paar Cent für den Regenwald sicher drin gewesen. Alles macht man zu Geld, doch der Sammler wird im Regen stehen gelassen. Vielleicht könnte man den ökologischen Fußabdruck auch egalisieren, in dem man im Nachhinein die Ermäßigungen von den Eintrittspreisen für Minderjährige abzieht. Denn die gibt es gar nicht: Kinder müssen Vollpreise zahlen, das gilt selbst für Babys, die noch nicht sitzen können. Klarer Fall: Goldene Himbeere für „Die Selbstdarsteller von Nyon“.
Dennoch: Zufrieden und mit einem Stück Papier in der Hand ging es zum Stadion, das mir nach all den Jahren immer noch gefällt, auch wenn es als „Turnhalle“ verspottet wird. Die Arena war das erste „Hightech-Stadion“ in Deutschland. Irgendwie stimmen die Proportionen und der Blick auf das Spielfeld – mit dem Metall-Labyrinth an der Decke und dem Videowürfel in der Mitte. Und vor dem geistigen Auge fährt immer wieder Rudi Assauer auf dem Rasen ein. Auf diesen Moment wollte ich mir ein 10€-Bier gönnen. Aber ich kam nicht weit. Kein Alkohol auf den Rängen. Das war bei den Spielen zuvor in Hamburg und Berlin nicht der Fall. Komische Regie. Muss man nicht verstehen, aber vielleicht haben die Engländer ganze Arbeit geleistet.
Und trotz dieser Restriktionen traf man im Stadioninneren natürlich auf eine stark alkoholisierte britische Mehrheit. Herrlich unorganisiert und platzend vor Nationalstolz. Alles wie immer. Anziehend und abstoßend zugleich. Aber das macht die Faszination am englischen Fußball aus. Auf dem Rasen gab es schließlich auch das ganze Spektrum von anziehend bis abstoßend. Schranz-Fußball gegen Schrott-Fußball. Kurz nachdem man sich damit zufriedengegeben hatte, mit einem knappen slowakischen Sieg zumindest einer halbwegs betitelbaren „Sensation“ beizuwohnen, erzielte Jude Bellingham das vielleicht schönste Tor der EM per Fallrückzieher. So sind sie, die Engländer. Irgendwie können sie dann doch kicken, im Mutterland des Fußballs.
Tatsächlich ging es in die Verlängerung und prompt fiel der Siegtreffer von Harry Kane in der 91. Minute. Also eigentlich noch vor dem Ausgleich in der 90+5. Minute. Eine von vielen kuriosen Fußnoten bei dieser EM. Aber letztlich lief alles nach Plan. Die Engländer setzten sich knapp durch, obwohl sie sich eigentlich blamiert hatten, und wenig später saß man dann auch in der abgemachten Mitfahrgelegenheit Richtung Bremen. (mbh)









