KIRCH MULSOW – Jahresausklang auf dem Betzenberg. Es hätte so schön sein können, nun aber finde ich mich in Kirch Mulsow wieder. Einem 250-Seelen-Kaff zwischen Wismar und der Kühlung. Irgendwo im Nirgendwo in einer allerdings ziemlich unberührt-überzeugenden Natur, für die sich eigentlich sonst kein Auswärtiger interessiert. Nur heute überfallen einige Dutzend Fußballtouristen diese blühende Landschaft. Schon am Eingang entdecke ich Groundhopping-Größen, deren Ruf- und Spitznamen meistens irgendwie mit „Bier“ anfangen. Es ist für alle das letzte Spiel des Jahres. Zumindest in Deutschland. Und da die Alternativen jede Stunde rarer werden, haben fast alle das gleiche Ziel ins Navigationsgerät getippt.
In Kirch Mulsow gibt es neben den Störchen, die das Dorf alljährlich im Frühjahr beehren und im Vereinswappen gewürdigt werden, genau zwei weitere Highlights: Eine ziemlich coole, alte Kirche, die bekanntlich im Ortsnamen Erwähnung findet und mal wieder einen neuen Anstrich vertragen könnte, sowie einen Landesklassisten und seinen kleinen, aber feinen Sportplatz: Den Betzenberg. Und der hat seinen Namen durchaus verdient, denn tatsächlich geht es einen Hügel und etliche Treppenstufen aufwärts, bevor man den sehr engen und gemütlichen Fußballplatz betritt. Vor dem Eingang erinnert DDR-Architektur in Form eines Flachbaus und einer Bockwurstbude an die Gründungs-Geschichte des Vereins. Hinter der Stadionkasse grüßt eine kleine Wellblechtribüne und lädt den leicht verkaterten Groundhopper zum Sitzen ein.
Auch das Wetter spielt mit und an diesem ersten November-Tag machen sich die wirklich allerletzten Zuckungen des Spätsommers nochmal bemerkbar. Bald schon wird es düster werden. Es folgen neunzig solide Minuten Fußball in der Landesklasse, der achten Ligastufe in diesem Bundesland, in denen die Kleinstädter aus Neukloster souverän über den Dorfverein obsiegen, der aber wirklich alles in die Waagschale wirft – vom Stadionsprecher bis zu den Jungs, die tapfer die manuelle Anzeigetafel bedienen. Zwischendurch belohnt sich Mulsow, die am Spieltag zuvor den Ball 10 Mal aus dem eigenen Netz holen mussten, mit dem Ausgleich. Doch das größere Talent auf Seiten von Neukloster ist unübersehbar, so dass das Endergebnis nur noch eine Frage der Zeit bedarf und am Schluss mit 1:4 doch recht standesgemäß ausfällt.
Als die Spieler im Sonnenuntergang an der Bockwurstbude vorbei die Betonstufen zu den Umkleidekabinen im Flachbau runterstapfen und die Metallstollen der Schuhe dabei diesen unverkennbaren Soundtrack eines Bolzplatzes im Abgesang liefern, könnte das Jahr vorbei sein. Ich mache noch ein paar Fotos und fahre etwas wehmütig nach Hause. Und sogar eine Story habe ich noch in der Tasche, denn der glücklose Stürmer der Mulsower – nennen wir ihn aus Datenschutzgründen einfach: Giovanni Zarrella – ist mir am Vortag schon unter den Zuschauern in Bentwisch aufgefallen, dort durfte ich einer Landesliga-Partie beiwohnen. Und dieser Ort ist ja immerhin rund 50km von Kirch Mulsow entfernt. Das finde ich, ist eine witzige Fußnote.
Nachdem ich ein Foto in einem Sozialen Netzwerk poste und der Spieler in dem Beitrag Erwähnung findet, geht das Dilemma los: „Schildern Sie mir doch bitte genau, welche Spielaktionen des Angreifers ‚erfolglos‘ in Ihrem geschulten Auge waren“, werde ich kurz darauf von besagtem Akteur aufgefordert. Keine Ahnung. Antworte ich natürlich nicht. Aber um weitere „unangenehme Nachfragen“ von Zarrella zu entgehen, neutralisiere ich umgehend alle Passagen, die ihn betreffen. Wer weiß, vielleicht habe ich ja den spektakulärsten Spielerwechsel des kommenden Jahres zwischen Wismar und der Kühlung aufgedeckt?
Das Jahr 2020 ist für mich jedenfalls gelaufen. Was im Kopf bleiben wird: Kleine Wellblechtribünen, liebevolle Dorfsportplätze, Metallstollen auf Betonplatten und Zugvögel im Sonnenuntergang. Und das wird auch im nächsten Jahr wieder meine Motivation sein zum Fußball zu gehen – und darüber zu schreiben.
GIFHORN – Dieses Kreuz in der Oberliga Niedersachsen war überhaupt nicht geplant. Aber: Kein‘ Bock auf Corona-Panik in Bayern, wo ich die letzten Tage vor dem nächsten Corona-Weltuntergang verbracht hatte und die Vereine ihre Wochenend-Spiele zuletzt freiwillig cancelten. Lieber fädelte ich auf dem Heimweg von Süd- nach Norddeutschland noch einen Zwischenstopp in Gifhorn ein und fuhr etwas eher als geplant heim. Die „Mühlenstadt“ in Niedersachsen – mit einem Bevölkerungs-Anteil von etwa 10% „Russlanddeutschen“ übrigens Zentrum der Spätaussiedler in Deutschland – liegt Luftlinie gar nicht mal so weit von meinem Zuhause entfernt, aber nach Gifhorn und in die nähere Umgebung, führt aus dem Ostsee-Raum seit jeher leider keine Autobahn.
So war mit dem Besuch beim MTV sozusagen eine rumpelige Hin- und Rückfahrt eingespart. Ein „Notnagel“ in Sachen Groundhopping ist der Oberligist aber gewiss nicht. Das „GWG-Stadion an der Flutmulde“ ist ein Ort, an dem der Fußball zu Hause ist. Selbst in Pandemie-Zeiten. Eine vollbesetzte, schicke Haupttribüne zeugt davon. Verschiedenfarbige, individuelle Eintrittskarten, Bratwurst vom Metzger, ein Fanshop-Mobil und letztlich sogar ein kleiner schwarz-gelber Support-Mob – das sind an und für sich genug Argumente, um jederzeit wieder die B4 nach Gifhorn hoch- und runterzukrauchen.
Zumal, wenn es zu einem „Derby“ kommt, wie an diesem Tag beim Spiel gegen die U.S.I. Lupo-Martini aus dem benachbarten Wolfsburg. Der Derbybericht in der „Gifhorner Rundschau“ hatte mich am Freitag getriggert, muss ich zugeben. Ohne den euphorischen Artikel aus der Provinz wäre ich sicher nicht darauf gekommen, dass es sich um ein Nachbarschaftsduell mit Belang handelt. Nicht mal „Gifhorn-Jörg“ kann die Freude trüben – natürlich bin ich an den einzigen Groundhopper auf der Welt geraten, der aus Gifhorn stammt und Lupo-Martini die Daumen drückt. Er erkennt mich sofort als seinesgleichen und ich habe 90 Minuten einen emsigen Gesprächspartner neben mir. Wer kennt es nicht? Aber ich will nicht klagen, sogar ein Getränk gibt er mir aus, das ich leider nach dem ersten Schluck bezeichnenderweise umstoße. Beim nächsten Mal bin ich denn dran. Nützt ja nichts.
Das Spiel hält, was die Gifhorner Rundschau versprochen hat: Nach kurzer Abtastphase macht der MTV Druck und erzielt nach einer Ecke das schönste Tor des Jahres: Kim-Marvin Kemnitz (ja, der heißt wirklich so) hält nach einem ruhenden Ball aus spitzem Winkel einfach mal drauf – so ähnlich wie Matthäus 1992 gegen Leverkusen. Schon ist der Bann gebrochen und wir erleben ein tolles Spiel zweier Mannschaften im Aufwind. Dem schnellen 2:0 folgt allerdings noch vor der Pause per direktem Freistoß der Anschlusstreffer für die Italiener. In der zweiten Halbzeit ist es lange Zeit ein offener Schlagabtausch, selbst nach der vermeintlichen Vorentscheidung zum 3:1, drückt Wolfsburg auf den Anschlusstreffer. Der verdiente Sieger heißt am Ende aber Gifhorn.
Dann geht das Licht ganz schnell aus. Beim ersten Spiel nach der Umstellung auf die Winterzeit, ist es kurz nach dem Abpfiff zügig dunkel. Die Gifhorner feiern den Sieg vor ihren Fans mit einem lautstarken „Derbysieger, Derbysieger!“. Regen setzt ein. Und der Spaß ist jetzt leider vorbei.
LÜBECK – Die Drittliga-Premiere der Hanseaten. Eine Woche vor dem Spiel wurde noch klipp und klar formuliert, dass die Landesregierung maximal 500 Zuschauer zu Sportveranstaltungen zulässt und vom VfB ebenso klar kommuniziert, dass an dieser Regelung nicht zu rütteln sei. Also verplante ich mein Wochenende nahe der Müritz, bei meiner eingeheirateten Familie. Den Sonnabend hielt ich mir dennoch frei – man weiß ja nie. Alles was man in Corona-Zeiten weiß, ist, dass man nichts weiß. Und tatsächlich öffnete die Landesregierung am Dienstag die Schleusen für mehr Zuschauer. Der VfB würfelte am Donnerstag die Mindestkapazität von 1860 Zuschauern aus. Das bedeutete: Mehr Tickets als Mitglieder/Dauerkarteninhaber. Sprich: Ein freier Verkauf stand bevor. Von dem Zeitpunkt an war klar, dass ich den Aufenthalt bei der Oma meines Sohnes würde unterbrechen müssen. Fast 17 Jahre in denen es Niederlagen gegen den BSV „Schwarz-Weiß“ Rehden und den Zipsendorfer FC Meuselwitz hagelte. Immer windig, oft alleine. Diese Belohnung jetzt, musste ich mir abholen. 24 Stunden später hatte ich mein Ticket.
Sinnbildlich: Von Wind und Regen keine Spur – bei bestem Spätsommerwetter empfangen die Grün-Weißen den Mit-Aufsteiger aus Saarbrücken. Die Stehplätze auf den Hintertorseiten bleiben zu, die Schar verteilt sich auf die beiden Sitzplatztribünen. Vor der Haupttribüne hat man ein zweistöckiges Container-Dorf errichtet, das nun alle Kassen abhandelt und den neuen Fanshop beherbergt. Auf der zweiten Etage prangt ein neuer Stadionname an der Außenwand: Dietmar-Scholze-Stadion an der Lohmühle. Dem ehemaligen Präsidenten der Hanseaten wird diese Ehre zunächst für ein Jahr posthum zuteil. Der Einlass zum Stadion erfolgt in gebührenden Abständen, die privaten Sicherheitsleute kennen keinen Spaß. Und als ich die imaginäre, nicht-gekennzeichnete Stadiongrenze in die falsche Richtung verlasse, will man mich nicht wieder reinlassen. Dabei wollte ich nur kurz zum Fanshop. Ich will nicht um den heißen Brei reden: Der Betrieb vor dem Stadion geht mir jetzt schon auf den Sack. Alkoholische Getränke werden nicht ausgeschenkt, okay. Aber alkoholfreies Bier hätte es bei dem schönen Wetter auch getan. Fehlanzeige. Allerdings habe ich auf das ganze Prozedere auf dem Vorplatz – das Schlangestehen, Masketragen und Kontrolliertwerden – eh keinen Bock.
Drinnen dann ein anderes Bild. Die Haupttribüne war zu Regionalliga-Zeiten sicher nicht besser besetzt als heute und das durchmischte Publikum, das sich quer auf die Blöcke G1 bis G6 verteilt, macht einen durchweg motivierten Eindruck. Im Stadion sieht alles wie immer aus, mit einer Ausnahme und einer Ergänzung: Die Stehplätze zwischen Pappelkurve und Haupttribüne sind den Containern gewichen. Und hinter dem Gästeblock hat man eine digitale Anzeigetafel errichtet – die allerdings selbst aus der Ferne stark verpixelt wirkt und außer der Ergebnisanzeige nichts kann. Noch immer gibt es keine Uhr im Stadion – ob nun digital oder analog – das hat mich hier schon als Jugendlicher genervt.
Die grüne Mannschaft kommt auf den Platz, dreht eine Ehrenrunde und erntet stehende Ovation. Das Spiel kann beginnen! Die Elf auf dem Rasen und die Eintausendachthundertsechzig auf den Rängen sind sofort eine Einheit. Beeindruckend was eine halbvolle Tribüne so abliefern kann. Die Zeitung mit den großen Buchstaben schreibt nächsten Tag von einer „Gänsehaut-Atmosphäre“. Dazu trägt auch der frühe Führungstreffer von Patrick Hobsch bei, der den Ball irgendwie – ganz nach seiner Manier – über die Linie stochert. Danach verflacht das Spiel etwas, ohne dass man akut um die Führung fürchten muss. Ballgewinne und Chancen werden frenetisch gefeiert. Genau so hat sich jeder Besucher die Rückkehr in den Profi-Fußball vorgestellt! Die zweite Hälfte verläuft ähnlich, nur dass Grün-Weiß zwei, drei gute Chancen herausspielt und sogar ein Tor nachlegen muss – namentlich zu erwähnen sei hier Stürmer Elsamed Ramaj. Nachdem dies nicht gelingt, versiegt allmählich die beeindruckende Mischung aus Kraft und Konzentration bei den Hausherren. Infolge dessen muss man den Ausgleich der Saarländer schlucken. Fast genau so ein Kacktor wie auf der Gegenseite, denn ein Lübecker kann den Ball noch wegschlagen, bevor er das Netz berührt, so dass leichte Zweifel an dem Gegentreffer bleiben – das Endergebnis allerdings, spiegelt das Kräftemessen auf dem Rasen gut wider. Die 3. Liga ist kein Kindergeburtstag und für drei Punkte hätte man halt die zweite oder dritte Kerze nach der Pause anzünden müssen.
Abpfiff und es wird nach kurzem Beifall sofort die Kurve gekratzt. In der Halbzeit sah ich zufällig, dass man die Regionalliga-Premiere von Phönix Lübeck auf dem Buni nach hintern verlegt hat und doppelt hält nach der langen Corona-Pause in meiner fußballerischen Heimatstadt heute definitiv besser, so dass ich schnell zum nächsten Spiel eile. Außerdem ist mein Auftrag auf der Lohmühle für heute abgeschlossen. Fast 17 Jahre nach meinem letzten Profi-Spiel an diesem Ort bestimmen aktuell leider nicht nur sportliche Gesichtspunkte meinen fußballerischen Alltag. Man sieht sich in der Kreisliga wieder. Oder in zwei Wochen gegen Duisburg. Mal gucken.
BECKUM – Für das obligatorische A-Jugend-Spiel am Vormittag musste alles passen. Und wieder mal war auf Ryanair Verlass. Im Gegensatz zum Airport in Dortmund, erwies sich der Flughafen London/Stansted als brechend voll. Die Maschine nach Deutschland war aber nicht mal zur Hälfte besetzt. Wieder ging es bei bestem Wetter, freier Dreier-Reihe und (daraus resultierendem) Fensterplatz über den Ärmelkanal. In Dortmund angekommen, dauert es gerade mal eine Viertelstunde und schon sitze ich wieder in meinem Auto. Zur Auswahl standen einige Partien im Münsterland und in Ostwestfalen. Für das Jugend-Spiel in Beckum – das genau zwischen Dortmund und dem eigentlichen Ziel Gütersloh liegt – war eine pünktliche Landung und schnelle Abwicklung zwingend nötig.
Zwar wären auch Herren-Partien für den Vormittagskick in Frage gekommen, aber wirklich bedeutende Spiele waren nicht in Sicht. Zudem jeweils auf Kunstrasen. Das war in Beckum zwar auch der Fall, doch auf der Sportanlage befindet sich nicht nur die Plastikwiese. Hauptplatz ist immer noch die gute, alte „Römerkampfbahn“ – direkt neben dem Synthetikbelag. Der Kunstrasenplatz ist über eine Treppe, die gleichzeitig Stufenausbau darstellt, mit dem Rasenplatz verbunden.
Bei der SpVg Beckum hatte es irgendwie auch „Klick“ gemacht. Und siehe da, wenig später wusste ich warum: 1994 – ich war ein fußballbegeisterter Junge – kegelte die SV den 1.FC Köln aus dem DFB-Pokal. Die Partie endete 0:0 nach 120 Minuten. Der einstige Vertreter von Jens Lehmann bei Schalke 04 – Torwart-Legende Jürgen Welp – parierte im Elfmeterschießen einen Strafstoß von Bruno Labbadia, die Sensation war perfekt. Die 90er-Jahre in Beckum waren nicht nur von Pokal-Sensationen, sondern auch von erfolgreichem Oberliga-Fußball geprägt. Alles lange her, heute heißt die Realität: Landesliga. Oder: Bezirksliga. Wie im Falle der A-Jugend.
Die Römerkampfbahn besteht zu drei Vierteln aus etwas unförmigen, abgenutzten Stufen, die sich im Achteck eng um den Platz ziehen. Daneben existiert eine überdachte Tribüne mit Sitzbänken, Sprecherkabine und viel Patina. Ein sehr schöner Anblick. Der Rasen bleibt der ersten Herrenmannschaft der Beckumer vorbehalten. Für den Auftritt in der Landesliga am späteren Nachmittag, befindet sich der A-Platz aber auch noch im Winterschlaf und ist als gesperrt gekennzeichnet. Tatsächlich sieht das Grün arg verwüstet aus. Kaum vorstellbar, dass hier in der Hinrunde gekickt wurde.
Auch der B-Platz ist für einen Kunstrasen ganz in Ordnung. Wie eingangs erwähnt: Stufenausbau auf einer Längsseite. Zudem thront das Vereinsheim auf einer Anhöhe über dem Platz und auf den beiden anderen Seite hat man einen Graswall in L-Form aufgeschüttet. Norden, Osten, Süden, Westen – überall ist die Sicht am besten, wird man mit einer anderen Perspektive belohnt. Mit mir haben sich etwa 40 Zuschauer eingefunden, um diesen Fußball-Tag morgens mit den Junioren einzuläuten – nach der A-Jugend werden noch die beiden Herren-Mannschaften auflaufen. Sicherlich alles Mitglieder oder Aktive am Spielfeldrand. Natürlich guckt man mich, den Fremden, etwas schräg an. Aber egal: Ich genieße den ersten Frühlings-Flirt mit der Natur und gucke Fußball. Den einzigen Dialog, den ich mit einem Beckumer Fußballkiebitz führe, beschließt mein Gegenüber mit den Worten: „In Deutschland wird es ganz sicher keine Geisterspiele geben“.
Also dann, Anpfiff: Das Spiel kommt etwas schwer in die Gänge. Als Favorit gilt der Gast aus dem Paderborner Stadtteil mit dem tollen Namen Mastbruch, der mit einem Sieg auf Platz eins springen kann. Nach zwei sehenswerten Toren steht es kurz vor der Pause tatsächlich 2:0 für die Sportfreunde aus Paderborn. Doch Beckum hat die Chance mit einem Elfmeter in der Nachspielzeit zu verkürzen. Ich stehe schon oben am Vereinsheim und blicke auf das Spielfeld runter: Der Keeper hält!
In der Halbzeit gibt es Bratwurst und Kaffee bei Paolo. So heißt der Mann, der einen leicht desorientierte Eindruck hinterlässt und direkt hinter dem schönen Torbogen links im Grillhäuschen auf Aufträge wartet. Während eine Bratwurst die Geschmacksknospen zufriedenstellt, gehört der Kaffee zu den schlechtesten Muntermachern, die ich in letzter Zeit auf den Sportplätzen dieser Welt heruntergespült habe. Lauwarm und geschmacklich kann man nur erahnen, worum es sich handelt. Doppelt bitter. Zuvor war ich nämlich eine Viertelstunde – das war der Zeitvorsprung den ich mitgebracht hatte – planlos durch Beckum gefahren und musste feststellen, dass im katholischen Münsterland offenbar alle Bäckereien Sonntag-Vormittag geschlossen haben.
In der zweiten Halbzeit ist das Spiel weiterhin zähe Kost. Nichts desto weniger hinterlassen die Akteure auf dem Rasen einen ordentlichen Eindruck. Hier haben alle ihre Hausaufgaben gemacht, aber nicht jeder Jugendlicher wird als Weltklassespieler geboren. Es fällt auf, dass die Gäste letztlich viel mehr Torgefahr als die Beckumer in ihren lila Trikots ausstrahlen. In der Folge kommt es noch zu zwei Mastbruch-Toren, der Endstand fällt durch einen klassischen Konter in der Schlussminute. Direkt nach dem Spiel gibt die zweite Mannschaft auf dem Kunstrasen-Teppich gegen die Ahlener SG ihr Stelldichein. Ich lichte währenddessen die alte Römerkampfbahn mit meiner Kamera ab und denke außerdem an eine Nominierung von „Mastbruch-Tor“ für das Fußballwort des Jahres.
Da bis zum nächsten Anstoß in Gütersloh noch etwas Zeit verbleibt, fahre ich erneut eine Runde durch Beckum. Auf den ersten Blick keine besonders schöne Stadt, aber an jeder Ecke blitzt das Deutschland auf, in dem ich aufgewachsen bin: Backstein und Helmut Kohl, Zement und Peter Stuyvesant. Höhepunkt ist ein „Conodomat“ unweit der Römerkampfbahn mitten im Nirgendwo. Höchste Zeit für mich jetzt den Ort zu verlassen.
PADERBORN – Ganz genau hatte ich unter der Woche die Ohren gespitzt. Das Thema in den Nachrichten: „Corona“. Das Virus hatte Italien fest im Griff. In der Schweiz wurden bereits alle Veranstaltungen abgesagt und auch Dänemark zog am letzten Februar-Wochenende nach. In Deutschland trat COVID-19 bis dahin nur vereinzelt auf – lediglich dem Kreis Heinsberg wurde von den Medien besondere Beachtung geschenkt. Zu diesem Zeitpunkt dachte man noch, dass das Virus ein regionales Problem ist – und bleiben würde. Ein paar Mal stand ich vor einer Deutschland-Karte und wusste nicht so recht, was ich von der räumliche Entfernung zwischen Heinsberg und Paderborn halten sollte. Sobald es zur vollen Stunde schlug und die Radio-Nachrichten die üblichen Schreckensmeldungen verkündeten, drehte ich die Lautstärke nach oben. Kaum zu glauben, aber wahr: Ab Mitte der Woche wanderten Corona-News nach hinten, das heißt: Das Thema verlor an Wichtigkeit. Und meiner Reise am ersten März-Wochenende stand schließlich nichts mehr im Weg. Bundesliga, Premier League und Oberliga Westfalen, so der Plan.
Ursprünglich wollte ich für dieses Wochenende so viel Geld wie möglich einsparen, das Motto lautete: Low Budget. Doch als sich dann sowohl eine Möglichkeit für das Bundesliga-Spiel am Freitag in Paderborn ergab, als auch einem Premier-League-Spiel in London tags darauf beizuwohnen, konnte ich mich dank der recht hohen Ticket-Preise von dem totalen Minimalismus bald verabschieden. Bei Paderborn bekam man nur Tickets für das Spiel gegen Köln, wenn man bereits Bestandskunde im Online-Shop der Ostwestfalen war. Wie immer wurde ich bei eBay Kleinanzeigen fündig. Das Angebot dort war aber ausgesprochen rar: 27 Euro und damit 10 Euro über dem offiziellen Preis – eigentlich nicht so das Problem. Für einen Stehplatz aber schon ein stolzes Sümmchen, zumal ich die aufgerufene Zahl vom Schwarzmarkthändler noch drücken konnte. Das Premier-League-Ticket für den doppelten Preis, schien da schon eher eine Belastung für das Budget zu werden.
Um trotzdem an einem Minimalismus-Gedanken festzuhalten, probierte ich es als Fahrer mal bei bei „Blablacar“ aus – und siehe da: Junge Frauen rissen sich darum, mit mir zusammen in den Westen zu fahren! Sowohl auf der Hin- als auf der Rücktour, hatte ich nette und gesprächige Begleiterinnen an Bord. Alle waren sie jünger als ich, vermutlich in der 20ern. Kurioserweise hörten zumindest zwei von ihnen auf Namen, die auch in den 20ern beliebt waren – in den 1920er-Jahren: Beate und Ilona.
Im Dauerregen geht es nach Paderborn. Auf meine Frage zu Beate, ob sich ein Abstecher in das Zentrum der Stadt lohne, vernehme ich leises Gekicher. Die junge Frau stammt aus Bad Driburg und kennt sich aus. Da ich mich nach Ankunft noch um ein paar andere Dinge kümmern muss, erledigt sich eine Sightseeing-Tour durch Paderborn mangels Zeit ohnehin schnell. Ich glaube, das ist nicht weiter tragisch. Die Stadt wird ja nicht umsonst „Paderboring“ genannt. Und der erste Eindruck bestätigt das eindrucksvoll – Regengrau und Ostwind beflügeln die Fantasie auch nicht gerade. Aber ich werde das gerne nochmal nachholen – wenn über Paderborn und dem Rest der Welt wieder die Sonne scheint.
„Die erste Corona-Paranoia?“
Vor dem Spiel gab man mir einen Parkplatz-Tipp: Vom Nixdorf-Betriebsgelände fahren Shuttle-Busse zum Stadion. Im Bus steht man eng an eng. Die Stimmung ist gediegen. Ich habe das Gefühl, so wirklich glücklich wirken die Fahrgäste bei der körperlichen Nähe in diesen Zeiten nicht. Die erste Corona-Paranoia? Im Bus kommt trotzdem bei weitem keine Platzangst auf. Nach fünfminütiger Fahrt erreicht man die „Benteler“-Arena, die auf der grünen Wiese steht, im Dunkeln mit blauer Beleuchtung aber einen schicken Fixpunkt liefert. Das Stadion ist eine kleine Fertigbau-Arena, heute nichts Besonderes mehr. Das heißt: Langweilig, aber mit dem Komfort der Neuzeit. Im Stadion fällt auf, dass man die Tribünen nur durch innenliegende Treppen erreicht und das Spiel so aus einer erhöhten Position verfolgen kann. Die Zäune um das Spielfeld unten sind abgeklebt, ähnlich wie oft in Holland der Fall. Durch die hohen Stadionwände wirkt der Ort viel größer als er eigentlich ist. Warum nicht? Negativ bleibt mir die SCP-Behausung irgendwie nicht in Erinnerung. Auf Seiten der Haupttribüne wird das Stadion zur Zeit (von außen) etwas umgebaut.
Als Aufsteiger belegt der SCP aktuell den letzten Platz. Das konnte man erwarten. Dennoch stellt die Truppe von Steffen Baumgart eine Bereicherung für die Liga dar. Denn bei dem offensiven Spielstil kommt keine Langeweile auf und so feierte der Aufsteiger zuletzt einige Achtungserfolge – beispielweise verlor man das Spiel bei den Bayern vierzehn Tage zuvor erst in letzter Minute. Auch Köln in bestechend starker Form: Unter Neu-Trainer Markus Gisdol mit drei Siegen in Folge und damit weit weg von den Abstiegsrängen. Die Paderborner bilden auf ihrer Stehplatztribüne, die nach dem Möbelhaus-Patriarchen Wilfried Finke benannt ist, zunächst gar keine schlechte Einheit. Die etwas schrullige Vereinshymne wird durch die Bank weg mitgesungen. Eine kleine Ultra-Gruppierung, die nicht viel auf die Reihe kriegt und mit Bässen aus dem Ghettoblaster die Kurve desorganisiert, zerstört in der Folge aber Hoffnungen auf einen einheitlichen Support der heimischen Fans. Der Kölner Auswärtsblock ist pickepackevoll. Mit Doppelhaltern in beeindruckender Zahl und etwas Pyrotechnik, zelebrieren die Domstädter ein schönes Intro. Auf beiden Seiten wird im Laufe der Partie halbherzige Kritik an Dietmar Hopp geübt, der an diesen unbesorgten Tagen Anfang März überall im Fadenkreuz der Fans steht, weil u.a. in Sinsheim bekanntlich ein Spiel gegen die Bayern nach Fan-Kritik am Hoffenheimer Mäzen unterbrochen wurde. Highlight ist in diesem Zusammenhang ganz klar der Wechselgesang zwischen Paderborn und Köln Mitte der zweiten Halbzeit: „Scheiß DFB!“.
Das Spiel kommt schwer in die Gänge, aber schon bald zeichnet sich etwas ab: Die Hausherren haben nicht ihren besten Tag erwischt. Die Baumgart-Elf greift den Gegner früh an, kommt zu einigen Ballgewinnen, agiert im Spiel nach vorne aber viel zu ungenau. Was wiederum zu Ballverlusten und unverhofften Umschalt-Situationen für Köln führt. Irgendwann agiert Paderborn verunsichert und der FC hat den SCP „ausgelesen“. Geschickt wird der Gegner aus der Reserve gelockt, die Rheinländer nutzen die naive, fehlende taktische Flexibilität des Aufsteigers und den dargebotenen Raum für dominantes Vorwärtsspiel. Dennoch benötigt die Geißbock-Elf erst einen Eckball für die Führung: Jorge Meré trifft abseitsverdächtig, doch völlig regelkonform in die Maschen. In Folge einer Konter-Situation schließt DFB-Verteidiger Jonas Hector wenig später einen gekonnten Offensivspielzug mit einem sehr sehenswerten Schuss in den Giebel ab. Das wird schwer für die flinken, aber wirkungslosen Paderborner.
Natürlich kommt die Heimelf nach der Pause motiviert auf den Rasen zurück. Doch ansehnlichen Fußball bringt man nichts auf’s Grün. Das gilt allerdings auch für die Kölner, die offensiv gar nicht mehr am Spiel teilnehmen. Mit beherzten Zweikämpfen und dem Willen eines Außenseiters, kämpft sich der Aufsteiger dennoch in die Partie zurück. Und spätestens nachdem Dennis Srbny per Kopf zum Anschluss trifft, entwickelt sich ein spannendes und rasantes Spiel. Köln verpasst in Person von Anthony Modeste die Vorentscheidung: Der Franzose tanzt zunächst Leopold Zingerle aus, kriegt den Ball aber nicht im leeren Tor unter. Paderborn ist definitiv am Drücker, kurz vor Schluss landet ein fulminanter Distanzschuss nur an der Latte – am Ende soll es nicht sein. Ein Unentschieden wäre verdient gewesen und trotzdem geht der Kölner Sieg auch irgendwie in Ordnung. Komisches Spiel, aber der SCP ist irgendwie auch ein besonderer Aufsteiger.
Die Fahrt zurück zum Parkplatz gelingt gleich mit dem ersten Bus und nicht mal 20 Minuten nach dem Abpfiff dieses Bundesliga-Spiels, fahre ich schon wieder auf der Autobahn meiner Unterkunft in Dortmund-Sölde entgegen. Für ein Bundesliga-Stadion war das leichte, bekömmliche Kost. Doch bei Paderborn weiß man nie – vielleicht wird der Ground ja irgendwann wieder für eine mögliche Komplettierung der Regionalliga West interessant? Und dann steht die „Benteler“-Arena lässig gekreuzt mit einem Bundesliga-Spiel in meiner Statistik. Noch dazu mit dem letzten Heimspiel vor Zuschauern – für eine sehr lange Zeit.
ROSTOCK – Das Eröffnungsspiel der Drittliga-Rückrunde unter Flutlicht schien mir sehr geeignet für das erste Fußballspiel des neuen Jahres. Und der erste Eindruck bestätigt meine Ahnung: Gewusel, Aufregung. Menschenmassen, überall.
Und Schlange-Stehen. Hunderte Leute an den Kassenhäuschen. Komischerweise aber nur an der Abholkasse. Blöd gelaufen für die Generation Frühbucher. Beim freien Ticket-Verkauf sieht man höchstens ein Dutzend Wartende am Ticketfenster und zum Glück halte ich nach fünf Minuten eine 25-Euro-Karte für die Osttribüne in der Hand. Denn das gleiche Spiel setzt sich an den Stadiontoren fort: „Schlangestehen verrät nicht Mängel, sondern Sehnsucht nach Qualität“. So oder so ähnlich lautete mal die Schlagzeile eines SED-protegierten ZEIT-Artikels über die Zustände der ehemaligen DDR. Ich lass das mal so stehen.
Denn Qualität wurde von dem Aufeinandertreffen zweier ehemaliger DDR-Oberliga-Rivalen natürlich erwartet. Auf dem Rasen – und auf den Tribünen. Auch wenn es bereits vor Spielbeginn auf dem Treppenaufgängen zum Stadion rassige Schmähgesänge gegen „Chemie Halle“ hagelt – mit dem Anpfiff bleibt es zunächst recht ruhig. Nur der kleine Haufen Gästefans – vielleicht 300 bis 400 Hallenser – ehrt einem verstorbenen Fan. Dazu eine rote Bengalfackel. Die Hansa-Crowd auf der Südtribüne kontert dieses Intro lediglich mit zwei Böllern, die in die Pufferzone geworfen werden.
Akzente werden in den ersten 45 Minuten eher auf dem Rasen gesetzt, wo Rostock jeden Zweikampf annimmt, herausgespielte Chancen aber leichtfertig vergibt. Halle kommt zurück ins Spiel und während der erste Abschnitt ausklingt, ist die Führung für die physisch starken Gäste eigentlich nur eine Frage der Zeit.
Doch es geht torlos in die Kabine. In der Halbzeit wieder Altbekanntes: Schlange-Stehen. Für die Bratwurst. Nach mindestens 16 Minuten habe ich ein gut gewürztes, aber lasch gebratenes Fleischerzeugnis in der Hand und flugs geht es zurück auf die Tribüne. Gerade noch rechtzeitig, denn die Hanseaten haben ihre Silvester-Restposten mit ins Stadion geschmuggelt. Auf der Südtribüne gibt es eine Wunderkerzen-Choreo, kurze Zeit später sorgt eine Raketen-Gala hinter dem Stadion für eine verwunschene Atmosphäre und hellt den trüben Rostocker Nachthimmel auf. Na siehste, geht doch!
Nach dem Spektakel auf den Rängen, ziehen auch die Profis auf dem Rasen nach. Hansa lässt einfach nicht locker und ein sehr wendiger Spieler mit dem Namen Aaron Opoku holt sich die Kugel im Nachsetzen an der Mittellinie. Dann geht es schnell und diesmal ist es kein Haken zu viel: Korbinian Vollmann trifft satt in die Maschen, nachdem er sich hakenschlagend im Strafraum durchgetrickst hat. Ausgerechnet Vollmann, der zuvor viele falsche Entscheidungen traf und direkt nach dem Tor ausgewechselt wird.
Das Stadion explodiert! Ja, ja, und nochmal ja: Fußball braucht Tore! Ohne Treffer hätte das hier heute wie ein Eintopf ohne Fleischeinlage geschmeckt. Herzerwärmend, aber auch schnell verdaut Halle – nah dran an den Aufstiegsplätzen – startet zunächst wütende Gegenangriffe, doch nach fünf Minuten ist die Luft raus. Das Spiel hat seinen Höhepunkt überschritten und Rostock fährt einen verdienten, wenn auch knappen Sieg ein.
Die Mischung aus Leidenschaft und schroffem Auftreten birgt Begeisterungspotential. Nicht ganz 17.000 Zuschauer tragen ihre Elf an diesem diesigen Freitag-Abend in der Rostocker Nebelsuppe zum Sieg, aber unter dem Blechdach entfalten sie die Kraft von 70.000 Zuschauern. Und zumindest heute war auch ich einer von ihnen.
HAMBURG – Innerlich schon auf Weihnachten getrimmt, kam der Tag, an dem ich einfach mal zu Hause bleiben wollte. Ein Freitag im Dezember, das Quecksilber nähert sich dem Minusbereich und genussvoll registriere ich, wie ein Pokalspiel nach dem anderen in Hamburg abgesagt wird. Nur eine Begegnung ist standhaft: Harburg gegen Sasel. Bei dem Wetter würde die Partie eh auf der schmucklosen Anlage an der Baererstraße ausgetragen werden, wo ich vor kurzem unter der Woche ja sogar mal aufgeschlagen bin, so meine Vermutung. Aber nein, beim Veranstaltungsort beharrt der HSC auf den „Sportplatz Rabenstein“. Tatsächlich stelle ich Nachforschungen an. Wie gesagt, nicht mal ein Großfeuer würde mich heute aus dem Haus locken. Aber man kann ja mal schauen, wo der Fehler liegt. Der Fehler liegt eindeutig im System. Denn auf der Facebook-Seite vom HSC werde ich fündig. Dort wird das letzte Spiel auf Naturrasen in der historischen Sportstätte am Rabenstein angekündigt. Offiziell. Vom Verein! Auch am Hölscherweg wird man Matsch und Gras gegen Kunstrasen und Plastikgranulat tauschen. Für Puristen ein Graus. Also ab dafür!
Anschließend muss ich mich zu Hause erklären und es gibt wieder mal ein paar lange Gesichter. Aber nur kurz und nicht bei mir. Wenig später sitze in einem ziemlich alten, schwarzen Kombi deutschen Fabrikats und fahre einmal quer durch Hamburg-Harburg. Als ich die Anlage betrete, verschlägt es mir die Sprache. Ein richtig feines Teil, das ich überhaupt nicht auf dem Schirm hatte. In den 70er-Jahren fusionierten die Traditionsvereine Rasensport Harburg und Borussia zum Harburger SC. Abgesehen von ein paar Spielzeiten in der höchsten HFV-Spielklasse in den ersten Jahren der Neugründung, muss man die sportlichen Erfolge nach dem Zusammenschluss eher mit der Lupe suchen. Die beste Zeit im Harburger Fußball repräsentierte der Vorgängerverein „Raspo“ in der damals zweitklassigen Regionalliga Nord in den 60er-Jahren. Und genau aus dieser Zeit zeugt der „Rabenstein“. Der ganze Platz wird im Oval von verwitterten Stufen umzogen. Alles schief und krumm, die Stufen teilweise mit Backsteinen verstärkt. Ein uralter Umlauf, ebenfalls mit ganz viel Patina. Highlight und Eyecatcher ist eine Kiefer, die in einer Kurve aus den Stufen emporschießt. Außerdem stehen überall vereinzelt Bänke auf den Ebenen und auf der Längsseite zwischen den Trainerbänken hat irgendjemand mal Sitzschalen auf Holzbretter geschraubt. Natürlich hat man das Flutlicht angeknipst. Bei diesem Anblick hätte ich es wirklich sehr bereut, wenn ich in meinem warmen Zuhause in den Ofen geschaut und mit meiner Frau gemeinsam auf dem Sofa einen gemütlichen Abend verlebt hätte. Oder irgendwie so.
Immerhin: Zum Anpfiff regnet es nicht. Der Platz ist natürlich gut im Eimer. Aber egal, wird ja eh nächstes Jahr ausgekoffert. Bespielbar ist das Geläuf trotzdem. Der HSC aus der Bezirksliga hat es mit diesem Spiel – guck an – in das Achtelfinale des Landespokals geschafft und empfängt heute den TSV Sasel aus der höchsten Verbandsspielklasse. Die Ost-Hamburger kicken seit dem Aufstieg in die Oberliga in selbiger auch in schöner Regelmäßigkeit um die Spitze mit und überzeugen Jahr für Jahr mit einer griffigen, flinken, willigen Mannschaft. So naiv, von einer Pokalüberraschung am Rabenstein zu träumen, ist hier heute keiner. Nicht mal der Blick in das romantische Rund stachelt zu derartigen Gedankengängen an. Wenigstens hält der Außenseiter ganz gut dagegen und bewahrt rund 20 Minuten eine weiße Weste. Sasel dominiert das Geschehen, spielt seine Vorteile aber auch nicht brutal aus. In der zweiten Hälfte purzeln dann doch noch einige Tore. Auch zwei, drei sehr sehenswerte Treffer sind zu bestaunen, unter anderem eine Direktabnahme in Form einer Bogenlampe gut 25 Meter vor dem Tor.
Vor dem Anpfiff treffe ich mal wieder Niels vom SV Altengamme. Ich glaube, das dritte Mal hintereinander in Hamburg. Diesmal verquatschen wir fast das ganze Spiel, das allerdings – wie erwähnt – keine großen Überraschungen parat hält. Die größte HSC-Chance kreiert der Außenseiter in der Nachspielzeit, als Stürmerstar Mümin Mus alleine auf den TSV-Keeper zuläuft und vergibt. Niels und ich raufen uns die Haare. Die Begegnung auf und außerhalb des Platzes ist ein Gewinn. Nach dem Abpfiff wärmen wir uns in der gleichnamigen Absturzkneipe „Rabenstein“ auf, in der völlig überdrehte Musik aus einer Stereo-Anlage die Gäste beschallt und das tätowierte Service-Personal hinter’m Tresen seine mitgebrachten Hunde betütert. Ohne Mampf, kein Kampf – ich muss dringend mal was futtern: Pferde-Bockwurst passt irgendwie zu dem rustikalen Platz und der Kneipe. Als ich im Auto sitze und Niels sogar noch nach Hause fahre, rieseln die ersten Schneeflocken des Winters herab und zumindest im Amateurfußball ist jetzt tatsächlich erstmal alles auf Weihnachten getrimmt.
NEETZE – Mal wieder ein Spiel beim Lüneburger SK – mal wieder ein neuer Platz. Immer der historischen „Alten Salzstraße“ entlang, geht es diesmal von Schleswig-Holstein nach Neetze. Ein ziemlich großes Heidedorf, bekannt für seinen Spargel und passenderweise Teil der „Samtgemeinde“ Ostheide – wie es in Niedersachsen immer so schön heißt. Regionalliga auf dem Lande, da wird gerne mit den Augen gerollt. In Neetze ist das aber anders. Fast könnte man beim LSK schon von einer „SG Lüneburger Heide“ sprechen. Oder: Endlich mal wieder was los auf’m Dorf! Da wo der TuS Neetze letztes Jahr noch in der Kreisliga kickte, hat man die Dorfsportanlage regionalligatauglich hergerichtet. Ein Sportplatz mit Potential – und das hat man erkannt: Hanglage, alte und neue Stufenplätze, Vereinsheim mit Blick auf’s Spielfeld, Kioske und erstklassige Versorgung. Regionalliga in Neetze macht Spaß! Auch wenn das Dorf etwa 15km von Lüneburg entfernt liegt. Der LSK konnte seine Zuschauerzahlen dennoch um gut 25% steigern und „auffällig viele Autos mit Uelzener Kennzeichen oder aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg“ seien auf den Parkplätzen rund um das Jahnstadion anzutreffen, wie an diesem Sonntag vor dem Spiel die „Landeszeitung Lüneburg“ zu berichten weiß. Heute strömen über Tausend Zuschauer in das kleine Behelfsstadion am Rande des Spargelfeldes. Das liegt natürlich ebenso an dem guten Saisonstart der Lüneburger. Und am Gegner vom anderen Ende der historischen Salzstraße: VfB Lübeck.
Während die Heidestädter mit altem Trainersgespann in neuer Rollenverteilung – Trainerfuchs und Chefcoach Rainer Zobel rückte für den 40 Jahre jüngeren Qendrim Xhafolli auf den Posten des „Teamchefs“ zurück – und einem historisch-guten Saisonstart ausnahmsweise mal vor einer sorgenfreien Weihnachtsfeier stehen, ist die Lage beim selbsterklärten Meisterschaftsfavoriten aus Lübeck schon etwas verzwickter: Trotz sehr guter Punktausbeute verspielten die Mannen um Rolf Martin Landerl zuletzt einen passablen Vorsprung auf den ärgsten Verfolger aus Wolfsburg, der nach einer Siegesserie mittlerweile die Tabellenspitze übernommen hat. Vor dem ausgefallenen Heimspiel gegen Altona 93 eine Woche zuvor, überrumpelte VfB-Sportdirektor Stefan Schnoor den Trave-Klub mit einem spontanen Rücktritt, nachdem man in einer internen Sitzung zu der Auffassung gekommen war „verschiedene Ansichten über die sportliche Ausrichtung des Vereins zu vertreten“. Unter dem ehemaligen Bundesliga-Spieler hatte man mühelos den endgültigen Sprung in die Riege der Top-Vereine der Liga geschafft, Schnoor verhalf der Truppe mit seinen Personalentscheidungen zu einer Struktur, die sie heute auszeichnet. Und um weiter mit der Junioren-Abteilung der „Wölfe“ Schritt halten und möglicherweise einem Aufstieg ins Auge fassen zu können, benötigt man heute in der Lüneburger Heide unbedingt drei Punkte. Schöne Bescherung.
Für knisternde Vor-Adventsstimmung scheint also gesorgt. Und dann? Nichts. Nach fünfundvierzig Minuten delegiert der Pfeifenmann Akteure und Zuschauer in die Pause. Höchstens die letzten Minuten vor der Halbzeit versprachen Spannung, in denen der VfB eine und der LSK zwei sehr gute Chancen vergaben. Das ändert sich nach dem Kabinengang. Und zwar drastisch. Nur ein paar Augenblicke nach Wiederanpfiff und die Hausherren nutzen per Super-Pass in den freien Raum einen vom Schiedsrichter gewährten Vorteil. Fabio Istefo in der Mitte muss nur noch seinen Schlappen hinhalten. Keine zwei Minuten sind da gespielt. Der VfB ist wütend und wer sonst als der ehemalige Bundesliga-Spieler Ahmet Arslan ist in der Lage für den Ausgleich zu sorgen? Der letztjährige Königstransfer von Stefan Schnoor sorgt mit einem wunderbaren Solo für das postwendende 1:1. Manchmal ist ein Spiel nach so einer kurzen Folge von Höhepunkten schnell beendet. In Neetze fängt der Spaß erst richtig an. Zunächst stößt der Lübecker Yannick Deichmann einen Gegenspieler etwas unnötig hinter der Torauslinie zu Boden – Tumulte bei den Gastgebern. Genau vor den Gästefans. Rudelbildung auf dem Platz, Rudelbildung im Block. Der pickepackevolle Auswärtsblock lässt es sich dabei nicht nehmen, ein Zaunelement zum Einsturz zu bringen. Nichts Neues in den neu errichteten „Gäste-Gefängnissen“ der norddeutschen Regionalliga-Republik. Bereits in Hannover und bei Altona 93 spielten sich ähnliche Szenen im Lübecker Bereich ab. Ein bisschen Rütteln und schon findet man Formulierungen wie diese auf den Websites der Regionalligisten: „Überhitzte Fans stiegen auf die Umzäunung, ein großes Zaunteil wurde herausgerissen. Minutenlange Unterbrechung. Die zahlreich vertretene Polizei in Alarmstimmung“ (Lüneburger SK). Nun ja, die VfB-Fans richten die flattrigen Absperrung von ganz alleine wieder auf. Es postieren sich fortan ein paar Beamte vor dem Block. Regionalliga auf dem Dorf.
Wegen so einem Baumarktzaun im Gästeblock beim Hannoverschen SC, verdonnerte ein NFV-Gericht die Lübecker übrigens zu einem „Seminar zur Gewaltprävention an dem man mit zwei Personen teilzunehmen hat“. Der VfB lehnte ab und muss nun 700 Euro Strafe zahlen. Andere Sache. Die Geschichte des Spiels jedenfalls, ist noch nicht vorbei. Nächstes Kapitel: Elfmeter für die Gäste! Spiel gedreht? Mitnichten. Diesmal ist Arslan der tragische Held und verschießt den Strafstoß – LSK-Keeper Ole Springer kratzt die Kugel mit den Fingerkuppen aus dem rechten, unteren Eck. Doch der VfB-Auftritt nach dem Rückstand hat gesessen. Gäste-Trainer Landerl stellt die Mannschaft auf 3-5-2 um und die Elf zieht Angriffe wie eine spanische Spitzenmannschaft auf: Ständig zirkuliert der Ball in den eigenen Reihen. Trotzdem muss ein wirklich hässliches Tor in Folge einer Ecke für die Führung herhalten. Der Kopfball von Patrick Hobsch – übrigens der Sohnemann vom Deutschen Meister Bernd Hobsch – wird vermutlich kurz hinter der Linie von einem Lüneburger geklärt. Das „Hawk-Eye“ sucht man in dieser Spielklasse vergebens. Und bei dem trüben Wetter nützen auch die besten Adleraugen nichts. Lübeck dreht die Partie – diesmal benehmen sich die Heimfans daneben und bewerfen den Linienrichter mit einem Bierbecher. Der kleine Haufen LSK-Fans erweckt auch sonst eher den Eindruck, als wenn er in seiner Freizeit arglose Personen mit alkoholischen Getränken bewirft. In der Nachspielzeit krönt der starke Deichmann seine Leistung und erzielt mit einem abgefälschten Schuss das Endergebnis. Das Spiel trudelt sich aus. Abpfiff: Die Zuschauer strömen zurück in den Ort aus dem sie gekommen sind oder auf die Kuhweide, wo die auswärtigen Autos parken. Der düstere November-Tag ist mit Einsetzen der Dämmerung abrupt beendet. Für heute hat das Dorf genug gesehen.
PAMPOW – Da man wohl nur nach Pampow fährt, wenn man einen Besuch in der „Gartenwegarena“ plant, wollte ich unbedingt ein Freitagsspiel in dem Schweriner Vorort sehen. Freitagabend ist der Tag schon gelaufen und es kann nur besser werden. Außerdem gibt es im Schweriner Süden eh nicht viel zu gucken, also ab zum Fußball! Zu Gast an diesem diesigen Novembertag die TSG Neustrelitz und somit wartete ein Landesduell in der Oberliga NOFV-Nord auf mich. Wie begeisterungsfähig die Pampower bei solchen Landesduellen sein können, zeigte sich einige Wochen zuvor, als die Zweitvertretung von Hansa Rostock über 1000 Zuschauer in den Gartenweg lockte. Zuletzt verloren sich nur noch 200 bis 300 Seelen auf dem Komplex im Industriegebiet.
Neustrelitz liegt auch noch gute 2 Autostunden von der Landeshauptstadt entfernt. Umso überraschter bin ich, als zehn Minuten vor dem Anpfiff alle Plätze belegt sind. Nicht nur die kleine Tribüne ist ausverkauft, auch an den Umlauf drängen sich die Leute wie die Hühner auf der Stange. In der ersten Halbzeit postiere ich mich daher mit den Händen in der Hosentasche lässig an einer Eckfahne. Das Spiel ist intensiv, Pampow als Aufsteiger überlässt dem ehemaligen Regionalligisten das Feld. Die Hausherren haben aber verdammt schnelle Sturmspitzen in ihren Reihen und spielen sehr körperbetont auf Konter. Der Respekt ist auf beiden Seiten zunächst recht groß, weshalb keine Mannschaft so richtig aus ihrer Deckung will. Kurz vor Ende der Halbzeit schlender ich Richtung Tribüne, ich stehe schon hinter dem Pampower Tor, da gibt es Freistoß für Neustrelitz. Ich bleibe stehen und sehe wie Djibril N’Diaye den Ball irgendwie ins Tor reinwurschtelt. Proteste bei Pampow, aber jetzt kann das Spiel endlich beginnen.
Der Ground ist offenbar recht neu und modern. Bis auf die kleine, schöne Tribüne, die nach einer Apotheke benannt ist, gibt es allerdings irgendwie kaum was Erwähnenswertes. Eine Anzeigetafel, hübsche Imbisswagen. Joa. Der Ort des Geschehens hinterlässt einen guten Eindruck, vielleicht auch, weil die Veranstaltung gut organisiert ist. Mit wurde vorab die Diversität der Speisekarte am Imbisswagen ans Herz gelegt. Aber das stimmt nicht: Es gibt grad mal eine Sorte Wurst, klein und dick und vor dem Anpfiff noch nicht mal „gar“. Allerdings erstaunlich, dass eine Bude und ein Grillmeister es fertig bekommt, letztlich jedem der über 500 Gäste rechtzeitig eine Wurst zu auszuhändigen.
Weiter geht’s mit der zweiten Halbzeit. Und die entwickelt sich genau so, wie ich es mir erhofft habe. Ein trübes Freitagsspiel, Flutlichter, zwei Mannschaften auf Augenhöhe. Pampow mit der Aufstiegs-Euphorie, Neustrelitz der Aufstiegsanwärter. In der Halbzeitpause konnte ich mir doch noch einen Platz an der Stange ergaurnern und stehe nun neben recht fachkundigen Leuten in der ersten Reihe. Der MSV kommt wie verwandelt aus der Kabine und übt Druck aus. Zunächst fällt nach einem überlegten Angriff auf der Gegenseite jedoch das schnelle 0:2. Ein Einwechselspieler mit dem Namen Schnabl reißt das Ruder jedoch schnell um und hebt mit seinen Dribblings das Publikum aus den Sitzen. Seinem Einsatz ist eine Ecke zu verdanken, die bei einem Spieler an der Strafraumgrenze landet und dessen Schuss der bullige Stürmer Johannes Ernst mit der Hacke ins Tor lenkt. Tosender Applaus! Wiederanpfiff. Wieder Dominic Schnabl. Flanke, Dias, Tor. Der Deutsch-Angolaner belohnt sich mit dem Ausgleich für eine blitzsaubere Partie. Fabio Manuel Dias, vor der Saison aus der Regionalliga West vom VfB Homberg gekommen. Den Namen sollte man sich merken.
Wie das immer so ist, Pampow agiert zwar weiter offensiv, aber der ganz große Dampf ist abgelassen. Dennoch vergibt man Siegchancen und das Publikum raunt. Als die Uhr dem Ende entgegentickt, hat sich auch Neustrelitz von dem Schock erholt und versucht nochmal die Pferdchen nach vorne zu treiben. MSV-Keeper Ronny Losereit verdient sich beim Chancen-Vereiteln Bestnoten und wird sogar vom Stadionsprecher per Durchsage geadelt und geehrt. Am Ende steht ein gerechtes Unentschieden, das den jeweiligen Spielphilosophien und sportlichen Leitbildern sicher gerecht wird. Gar nicht vorbildlich, finde ich ja die Böhsen Onkelz. Jedem das Seine. Oder? Für mich heißt es dann jedoch schleunigst Abflug, als der Abend für die restlichen Pampower in der „Gartenwegarena“ mit den musikalischen Ergüssen der „Rockpop“-Band aus Frankfurt ausklingt.
BÖNNINGSTEDT – Nun war es also so weit, nachdem sich der SV Rugenbergen bereits im Vorjahr als einziger weißer Fleck auf meiner Oberliga-Hamburg-Karte hervortat und ein Besuch im Februar an der Witterung scheiterte, wurde nun schon in der Hinrunde Nägel mit Köpfen gemacht. Zuvor galt es noch drei von diesmal fünf Oberliga-Aufsteigern zu kreuzen, das gelang ziemlich mühelos und mit teilweise recht schrulligen Anekdoten. Das was an einem 7. September 2010 bei Victoria Hamburg seinen Anfang genommen hatte, stand heute an diesem sehr milden November-Tag – mehr als 9 Jahre später – vor der Vollendung. Von Rugenbergen – einer grauen Oberliga-Maus – hatte ich bis dahin keine große Meinung. Der Ortsteil von Bönningstedt, einer kleinen Stadt im Landkreis Pinneberg, liegt für mich äußerst ungünstig im Nordwesten der Hamburger Peripherie. Hier war eindeutig niemals der Weg das Ziel.
Umso überraschter bin ich, als ich das Werner-Bornholdt-Sportzentrum betrete. Nach ein paar Minuten steht fest: Im nächsten Leben fahre ich als erstes zum SV Rugenbergen! In Sachen Versorgung: Unangefochtener Spitzenreiter der Oberliga Hamburg! Es gibt bunte Torten, regionales Feinschmecker-Bier vom Fass und natürlich einen Holzkohlegrill mit Bratwurst. Das ist eindeutig der perfekte Rahmen für eine Oberliga-Komplettierung! Das Herz der Anlage schält sich schnell heraus: Eine kleine Tribüne mit Kunstleder-Klappsitzen aus dem Stadion von Heracles Almelo. Das ist kein Scherz. Nico-Jan Hoogma – Sportdirektor bei den Holländern – hat zu HSV-Zeiten neben einem SVR-Funktionär gewohnt, aus dem Kontakt entstand eine Freundschaft. Mehrere Male fuhr die ganze Rugenbergener Mannschaft in die Provinz Overijssel zu Hoogma und Heracles. Als das Stadion des Ehrendivisonärs vor einigen Jahren umgebaut wurde, griff der alte HSV-Spieler zum Hörer und klingelte in Bönningstedt durch. Der SVR könne die luxuriösen, aber ausgedienten VIP-Sitze zum Nulltarif haben. Die rote Bestuhlung landete im Nu im Kreis Pinneberg. Fußball-Geschichten: Die Transportkosten teilte man sich mit dem Nachbarverein SV Halstenbek-Rellingen, der dafür die andere Hälfte der ausrangierten Sitze seinerseits im Jakob-Thode-Sportpark verbauen ließ.
Neben der äußerst komfortablen Sitztribüne fällt der Platz noch durch einige nette Details auf: Krummes Stankett, eine Anzeigetafel nebst Efeu-zugewucherter Remise mit Trecker und Walze, für die Pflege des Naturrasenplatzes. Auf der Längsseite gegenüber der Tribüne erstrecken sich noch ein paar Stufen, die heute – zur Feier des Tages – mit zwei Handvoll Auswärtsfans bestückt sind. Die dritte Mannschaft vom HSV ist dem e.V. untergeordnet und diente vor einigen Jahren als Fluchtpunkt der treuesten HSV-Fans, die nach der Umwandlung in eine AG ein neues zu Hause gesucht hatten und intern fündig wurden. Seitdem wird „Hamburg 3“ immer wieder tatkräftig unterstützt. Vor knapp zwei Jahren wurde ich dieser visuell untermalten Unterstützung bei einem Heimspiel gegen Teutonia gewahr, nach Rugenbergen hat es heute aber nur ein Bruchteil dieser Gruppe geschafft. Warum gerade mal so 100 Zuschauer den SVR Woche für Woche besuchen, bleibt übrigens ein Geheimnis. An den Umständen kann es nicht liegen. Eventuell eine scheiß Gesellschaft, in der wir leben?
Die Rothosen sind noch wegen einer anderen Personalie interessant: Marcell Jansen ist dort als Mittelstürmer mit von der Partie. Der jüngst gewählte Präsident des eingetragenen Vereins und ehemalige Bayern-Spieler hat den Fußball offenbar doch noch lieb. Dritte Mannschaft – unattraktiver Name, aber letztlich eine runde Sache. Gerüchten zu Folge soll HSV-Legende Piotr Trochowski demnächst als Spieler in der Oberliga-Mannschaft folgen. Genug Theorie, wichtig ist auf’m Platz: Dort begegnen sich zwei Mannschaften mit einer offensiven Spiel-Philosophie. Rugenbergen hat sich im Sommer neu aufgestellt: Trainerwechsel, Personal verjüngt, Ansprüche runtergefahren. Die Zeiten haben sich auch in der Oberliga geändert. Und wer was werden will, sucht sein Heil in der Offensive. Ich will der HSV-Truppe nicht zu Nahe treten, immerhin ist man im Sommer ja erneut in die höchste Verbandsspielklasse aufgestiegen. Aber so ein bisschen verbreitet die Truppe von Christian Rahn (auch ein ehemaliger Nationalspieler) den Eindruck einer „Fun-Truppe“. Tatkisch jedenfalls. An komplizierten Defensiv-Konzepten scheint man bei den Rothosen keine Gedanken zu verschwenden, das Auftreten der Mannschaft und die bisherigen Resultate sprechen diese Sprache.
Das Spiel beginnt natürlich mit einem schnellen Tor. 1:0 steht es für den Lokalmatador nach nicht mal zehn Minuten. Der HSV stark unter SVR-Druck, der so massiv ist, dass man sogar die möglichen Kontersituationen verstolpert. Als der Gastgeber immer stärker wird, findet allerdings doch mal eine fein herausgespielte Kombination, die bei Marcell Jansen ihren Ursprung hatte, den Weg ins SVR-Gehäuse. Dennoch geht Rugenbergen mit einem Vorsprung in die Pause und das hochverdient. Im zweiten Abschnitt ein ganz anderes Bild: Hamburg verteidigt das Leder mittels Ballbesitz und spielt sich diverse Chancen heraus. Ein trockener Schuss von der Strafraumgrenze bringt dem HSV den Ausgleich. Planlose Angriffe von Rugenbergen führen anschließend zu gefährlichen Konter-Situationen für die Drittvertretung. Erneut ein feiner Spielzug und diesmal ist tatsächlich Marcell Jansen der Abnehmer! Der Ex-Nationalspieler macht die Schleife drauf und freut sich über den Treffer wie einst in der Bundesliga. Kurz vor Schluss die Entscheidung durch einen Spieler, der durch Körperbemalung auffällt und dessen Verwandtschaft neben mir auf der Tribüne sitzt. Trotzdem kann es nur einen Gewinner heute geben: Der SV Rugenbergen und seine Anlage im Werner-Bornholdt-Sportzentrum an der Ortsgrenze zu Ellerbek.
BÖRNSEN – Zwei Mal ein 2:6-Auswärtssieg in einer Woche – damit können wohl die wenigsten prahlen. Nicht die einzige Parallele, die von diesem Spiel ausging. Bereits auf den Tag genau vor einem Jahr wollte ich dem Dorf am Rande Bergedorfs einen Pokal-Besuch abstatten. Auch damals war ein Oberligist zu Gast. Kein geringerer als die TuS Dassendorf, die übrigens gerade mal zwei Dörfer weiter ihre Heimspiele austrägt. Es schüttete wie aus Eimern, weshalb ich auf einen Besuch an der „Hamfieldroad“ verzichtete. „Dasse“ won 8:0. Ein Jahr war zwischen den beiden Pokal-Begegnungen vergangen, der Regen war geblieben. Doch der Unterschied zu 2018 lag darin, dass sich beim SV Börnsen für dieses Drittrundenspiel zarte Hoffnungen auf ein Weiterkommen entfalteten. Der Gast aus Bönningstedt – am komplett anderen Ende von Hamburg gelegen – krebst im Abstiegssumpf der Oberliga herum. Und Börnsen startete mit einem 18:0-Auswärtssieg bei der DJK Hamburg in diesen Wettbewerb. Diese Erstrunden-Partie um 10:00 Uhr morgens am Horner Kreisel war die torreichste Partie, der ich jemals beiwohnen durfte. So schließt sich der Kreis.
Der Ground bietet neben Flutlicht und Anzeigetafel ein paar Stufen auf der Längsseite und erhöhte Sicht von einem Plateau am Funktionsgebäude. Das Highlight am Vereinsheim ist sicherlich „Marinas Büdchen“, mit Naschi-Tüten und anderen Knabbereien, durch’s schmale Fenster gereicht von einer echten Vereinslegende – Marina. Nebenan sorgt der Grillmeister für krosse Fleischerzeugnisse. Die Currywurst lässt keine Wünsche übrig. Diese ganzen Fußnoten gepaart mit Naturrasen, ergeben definitiv einen recht charmanten Dorfsportplatz.
Noch etwas ist bemerkenswert: Auf der Längsseite sammeln sich nach und nach junge Männer in standesgemäßer Casual-Kleidung ein. Am Ende sind es gut ein Dutzend, irgendwann entrollen sie ein Plakat – und ich bin Augenzeuge der Geburtsstunde der „Börn Ultras“. Ich stehe in der ersten Halbzeit mehr als günstig zwischen den Ultras – die nach dem Wiederanpfiff noch eine Wunderkerzen-Choreo auspacken – und ein paar Edelfans vom SV Rugenbergen. In einem recht ausgeglichenen Spiel nutzt der SVR recht schnell seine individuelle Klasse zum 1:0. Danach lässt der Favorit aber die Zügel schleifen – der Bezirksligist kämpft sich in die Partie zurück! Und wird kurz vor der Halbzeit mit einem berechtigten Elfmeterpfiff belohnt. Nur Sekunden später steht es nach einem Kunstschuss 2:1 für Börnsen. Die „Ultras“ toben und der Außenseiter geht völlig überraschend mit einer Führung in die Kabine! Die Bönningstedter schwören sich bereits einige Minuten vor Wiederanpfiff im Spielerkreis auf die Wende ein – und nach ein paar Augenblicken fällt schon der Ausgleich. Rugenbergen lässt nicht locker und führt nach vermeidbaren Toren schnell mit 4:2. Dann jedoch die nächste vermeintlich spielentscheidende Szene in einem sehr hart geführten Spiel: Rote Karte für den Oberligisten! Ein bisschen Rest-Spannung verbleibt, ehe Bönningstedt in den letzten zehn Minuten die knappe Kiste doch noch in einen Kantersieg umwandelt.
Ein ausgewechselter SVR-Spieler legt sich noch wenig charmant mit dem Publikum an – wie ein Vierbeiner, den man von der Leine gelassen hat. Zweikämpfe mit der Kreissäge, Wunderkerzen, Kettenhunde, Holsten Edel aus der Handgranate – das ist keine Champions League, aber das ist der Fußball den wir lieben.
TODESFELDE – So viel Gutes hatte man über Todesfelde im Vorfeld nicht gehört. Der Verein nennt sich selbst scherzhaft „Deathfield“, der Spitzname ließ auch nicht viel Spielraum für Positives zu. Irgendwie liegt Todesfelde auch im Hamburger Speckgürtel, aber man fährt dann doch eine gute Stunde über Stock und Stein durch den Kreis Segeberg. Immerhin: Die SVT-Mannschaft ist ein Versprechen für das Hier und Jetzt und letztes Jahr als Dritter der Schleswig-Holstein-Liga eingelaufen. Mit viel VfB-Lübeck-Lokalkolorit und einem Gönner im Hintergrund, der auch auf der Lohmühle ein paar Euros springen lässt. Was die vielen Verbindungen zwischen den Vereinen erklärt.
Trotzdem konnte ich diesen Gang nicht mit irgendeinem Kirmesspiel antreten – es musste schon richtig was her. Der heißeste Shit aus der Schleswig-Holstein-Liga war gerade gut genug: Der 1.FC Phönix Lübeck hat sich als Oberliga-Aufsteiger sehr viel Tradition auf die Fahnen geschrieben und doch funkeln auch hier die Euros in den Augen. Phönix ist der Grund, warum SH-Meister Strand 08 so abgestürzt ist. Denn Mäzen Frank Salomon engagiert sich neuerdings beim Tradtitionsverein vom „Flugplatz“ und nicht mehr bei den „Strandpiraten“ aus Timmendorf. Nach einer starken Rückrunde unter gütiger Mithilfe vom Neu-Mäzen, schaffte man den Sprung in die Oberliga und gilt dort als Mitfavorit.
Der Sportplatz liegt am Rande von dem 1000-Einwohner-Dorf und sieht von außen eher unscheinbar aus. Das ändert sich, wenn man ihn einmal betreten hat. Entweder geht es an einem schönen, alten Platz vorbei, der vor der großen Zeit von „JODA Holz“ mal der Hauptplatz war, durch ein paar schöne Details glänzt und auf dem immer noch die zweite Mannschaft kickt. Oder man schlendert durch das Vereinsheim, nebst großer Turnhalle, Richtung Schleswig-Holstein-Liga und stellt fest, dass sich der Sponsor nicht hat lumpen lassen, großzügig in den Breitensport zu investieren. Die Handball-Mannschaft wirft sich die Bälle ebenfalls in der Oberliga zu. Man kann sein Geld auch in rote Sportautos investieren oder dafür sorgen, dass knapper Wohnraum noch teurer wird. Von daher sehe ich Investitionen auf diesem Level als Gewinn an.
Ein großes hölzernes Konstrukt hat der Sportplatz-Besucher anschließend zu passieren, auf dem der stolze Name „JODA Sportpark“ prangt und der erahnen lässt, womit der Todesfelde-Finanzier seine Kohle macht: Holz. Ebenfalls aus diesem Werkstoff hat man eine Tribüne auf der Längsseite mit handgezählten 128 Plätzen errichtet. Für die ganz harten Fans gibt es an der Ecke einer Hintertorseite noch einen Unterstand, der wie eine übergroße, alte Bushaltestelle wirkt. Natürlich aus Holz. Ein paar nette Details – wie eine riesige, alte Eiche neben dem Unterstand – runden die Anlage ab. Die Verpflegung macht richtig was her. Ein halbes Dutzend gut gelaunte Servicekräfte fertigt den Konsumenten flott und routiniert ab. Es gibt kaum Wartezeit, dafür aber Torte und Fassbier. Nachdem kurz hinter Lübeck ein brachiales Gewitter zum Langsamfahren auf der Autobahn zwang, präsentiert sich der Spätsommer nun von seiner besten Seite. Das einzige, was hier nicht gut ist, ist der Handy-Empfang.
Das Spiel reiht sich harmonisch in die Liste dieser positiven Eindrücke ein. Es geht hoch und runter, beide Teams wollen das 1:0 erzielen, verzichten dabei aber nicht auf den gepflegten Ball. Nach einer ausgeglichenen Anfangsphase kommt der Dorfverein immer besser in Gang, vergibt aber eine Torchance nach der nächsten. Torschützenkönig Morten Liebert wirkt, als wenn er in den Zaubertrank gefallen wäre. Aber seine hünenhafte Statur hilft ihm vor dem Tor heute auch nicht weiter. Die plattdeutsche Herrenriege hinter mir und alle anderen Tribünengäste raufen sich die Haare. Auch der Typ einen Sitz weiter, den ich erst für einen Groundhopper halte, der sich dann aber als Trainer vom Landesligisten TSV Travemünde entpuppt: Axel Junker. In der Halbzeit läuft mir VfB-Lübeck-Spieler Marvin Thiel in die Arme. Wir begrüßen uns per Handschlag.
In der zweiten Hälfte ergibt sich zur Unterhaltung aller neutralen Gäste ein komplett anderes Bild: Phönix kommt wie verwandelt aus der Kabine und drückt auf die Führung. 75 Minuten passiert gar nichts, dann geht der Gast nach einem feinen Schuss in Front. Das hatte sich abgezeichnet – meinen Platz hinter dem SVT-Tor hatte ich nach der Pause also goldrichtig gewählt. Folgerichtig geht es nun auf die andere Seite des Sportplatzes – und tatsächlich: Jokertor! Todesfelde gleicht direkt mit der nächstbesten Chance aus! Die letzten zehn Minuten schaue ich wieder komfortabel von der Tribüne auf’s Spielfeld. Und wieder ist es die richtige Entscheidung: Nochmal nimmt die Partie eine Wendung. Phönix ist fix und fertig, Todesfelde staubt in den letzten Minuten zum Sieg ab. Sogar Liebert trifft mit einem Tor noch zum Endstand. Heute passt einfach alles.
EMDEN – Die Stadt wirkt ein wenig wie eine Zeitreise. Nach unfreiwillig verlängerter Bahnfahrt, geht es an einem der letzten schönen Herbsttage zu Fuß direkt von der Delft – so nennen die Emder ihren Binnenhafen – zum Ostfriesland-Stadion. Vorbei an gut hundertjährigen Klinker-Siedlungen für die Hafenarbeiter, immer begleitet von stattlichem Wind. Unglaublich: Da fährt man fast fünf Stunden mit dem Zug durch’s Land und die Leute sprechen immer noch Plattdeutsch.
Die Behausung der Kickers steht dem ersten Eindruck der Stadt in nichts nach: Das sieht nach vorkommerzialisiertem Fußball aus! Dafür muss man heutzutage nicht nur sinngemäß an den Rand der Republik fahren. Tatsächlich waren die Kickers vor 10 Jahren bekanntlich im Konzert der „Großen“ dabei – Gründungsmitglied der 3. Liga. Am Ostfriesland-Stadion hat man selbst für die damalige Zeit wenig getan. Eine alte, irgendwie schiefe Tribüne, rundherum angegraute Betonstufen – und fertig ist das Profi-Stadion. Nichts mit Business-Seats oder so. Am 23. Mai 2009 fand hier das letzte Spiel unter professionellen Bedingungen statt. Unglaublich aber wahr: Der heutige Bundesligist Union Berlin wurde mit 3:2 aus dem Stadion geschossen. Kann man sich zehn Jahre später kaum vorstellen. Alles wirkt so nah, unaufgeregt und dabei ein bisschen provinziell.
Alles was den Kickers aus Drittliga-Zeiten geblieben ist, sitzt auf der Trainerbank und hört auf den Namen: Stefan Emmerling. Kein Scherz. Damals gegen Union, saß der ehemalige Bundesliga-Spieler auch schon an der Seitenlinie. Freilich hat Emmerling nicht die vollen zehn Jahre zwischen diesen beiden Spielen gestern und heute im Verein verbracht. Nach finanziellen Problemen und einem Durchmarsch bis in die Niederungen der Landesliga, spielen die Emder seit dieser Saison wieder fröhlich in der höchsten Verbandsspielklasse Niedersachsens mit und positionieren sich dort im sicheren Mittelfeld.
Das Spiel beginnt mit einem Paukenschlag: In der 3. Minute fliegt der Ball in meine Richtung. Ich stehe auf und köpfe die Kugel intuitiv ins Spiel zurück. Ich kann nicht anders. Ich bin Fußballer. Und mir ist natürlich die Legende von dem berühmten englischen Groundhopper bekannt, der die Plätze nur zählt, wenn er einen Ball zurückgeköpft hat. Also zurücklehnen – Soll erfüllt. Kurz nach meiner Kopfballszene fällt nach einem Torwartfehler auch gleich das überraschende 0:1. Die Gäste aus dem Landkreis Cuxhaven, die letztes Jahr in die Niedersachsenliga aufgestiegen sind, bereichern die Liga mit einem sehr guten Zuschauerschnitt und sind auch am Dollart mit überraschend vielen Leuten aufgekreuzt. Ein paar ältere Hagener sitzen vor uns und mit ihnen und einigen alteingesessenen Ostfriesen gibt es harte, aber witzige Wortgeplänkel. Nach meiner Kopfball-Aktion bekomme ich eine Rüge von einem Gast: „Was soll der Blödsinn?“. Dabei hat die ganze Tribüne nach dem gelungenen Kopfball applaudiert.
Noch vor der Pause schafft Emden sehenswert per Distanzschuss den Ausgleich. Bei Hagen/Uthlede fällt ein Zweimeter-Stürmer auf. Die Kickers spielen behände, der Gast kommt eher über die körperliche Komponente. In der Halbzeit gibt es „die besten Krabbenbrötchen“, wie der Stadionsprecher nicht müde wird zu betonen. 4,50 € für ein Krabbenbrötchen beim Fußball, das ist auf jeden Fall ein sehr fairer Preis. Dafür kriegt man in der Bundesliga noch nicht mal ein kleines Bier. Das beste Krabbenbrötchen, naja, zumindest hat es geschmeckt wie ein Krabbenbrötchen und sah so aus.
Auch Emden hat einige „Trommelleute“ älteren Semesters im Publikum verteilt. Zudem gibt es auf einer Hintertorseite eine kleine Support-Area, die heute allerdings nicht gut aufgelegt ist, wenig Leute zählt und mit einem Spruchband gegen irgendetwas Vereinsinternes demonstriert („Gäste im eigenen Stadion – wollt ihr das?“). Die Stimmung wird auf der Tribüne erzeugt und die reagiert spielbezogen. Das ist genau die richtige Methode und passt wunderbar zu den Bedingungen im Ostfriesland-Stadion, mit seinem tiefen Boden und der steifen Brise. Die Kickers spielen auf Sieg und Hagen gehen allmählich die Ideen aus. Die Führung ist nur eine Frage der Zeit und kurz nach der Pause macht die Heimelf per Doppelschlag kurzen Prozess.
Der FCHU spielt die zweite Hälfte gefällig runter, hat dem Gegner aber nichts mehr zuzusetzen. Nach einem Konter fällt eine Viertelstunde vor Schluss der Endstand. Das bringt letztlich selbst die Dame aus Hagen zum Schweigen, die mich nach dem Kopfball ausgeschimpft hat. Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.
REINBEK – Die Szenerie könnte zunächst trister nicht sein. Der erste November-Tag, schon seit den Morgenstunden regnet es in Hamburg und Umgebung Bindfäden. Nebelschwaden hängen an Häuserecken fest und ich wandere durch eine dunkle und etwas spießige Vorort-Siedlung eines Hamburger Vororts. Ohe, ein abgelegener Stadtteil von Reinbek. Der Ground liegt auch noch am Waldrand. Düster. Wenn es etwas früher so stark angefangen hätte zu regnen, das Spiel wäre nicht angepfiffen worden, wie mir eine Schiedsrichter-Beobachterin anvertraut. Doch nun stehe ich hier im Hans-Heinrich-Hackmack-Stadion und alle sind gekommen. Vor mir glänzt ein funkelneuer Ford „Ranger“ im gleißenden Flutlicht. Selbst in diesem Vorort-Vorort verschont die Marketing-Maschine den Fußball nicht. Ein örtlicher Autohändler hat seine Schmuckstücke ins Ohe-Tal gekarrt und versucht unter den vielleicht 100 Zuschauern neue Käuferschichten zu erschließen. Bizarr. Aber auch irgendwie putzig. So hat das in der Bundesliga auch mal angefangen.
Das war’s dann allerdings auch mit den, nun ja, etwas sonderbaren Winkelzügen. Der abgelegene Ort steht ansonsten eindeutig für Landesliga-Fußball von echtem Schrot und Korn. Stammgäste, Fan-Gemeinde, Merchandise, Holzkohle und Bratwurst. Klappt man die erste Seite des Spielprogramms auf, so ist bald ein ausführlicher Bericht vom „Nettelnburger Haxenessen“ zu finden, das offenbar beim Coach der ersten Mannschaft stattgefunden hat und in dem geschildert wird, wann welche Spieler ihren höchsten Pegelstand am Abend erreicht haben. Frei nach Max Merkel, der mal die Alkoholiker im Training gegen die Nicht-Alkoholiker hat antreten lassen – das Resultat ist bekannt -, befinden sich die Reinbeker Kicker trotzdem im Höhenflug. Letztes Jahr lange um den Aufstieg in die Oberliga mitgespielt, dieses Jahr in der Verfolgertruppe dabei. Mit simplen Methoden, aber das ist ja irgendwie das, was dem Fußball abhanden gekommen ist: Einfachheit.
Das Spiel geht mit einem Donnerwetter los: Der FCVO führt nach weniger als fünfzehn Minuten mit drei Toren! Nach einer halben Stunde gar mit 4:0. Und alle Toren fallen in Folge von Ecken durch verschiedene Torschützen. Ohe – übrigens einer von gerade mal zwei Vereinen in Deutschland mit dem Titel „Voran“ – macht Kleinholz aus dem Oberliga-Absteiger, ist in jedem Zweikampf präsenter und weiß wie man die Kugel nach vorne spielt. Auf diesem Niveau habe ich selten so eine Demonstration gesehen. Und Condor ist nun wahrlich kein Fallobst. Dennoch sitzt kurz vor der Halbzeit die immerhin zweite Condor-Chance und der Ball zappelt wenigstens einmal im Netz der Reinbeker.
Ein Ehrentrefffer? Im Nachhinein schon, doch die Ost-Hamburger drängen auf das zweite Tor und es liegt sogar ein wenig Spannung in der diesigen November-Luft. Das Spiel ist allerdings nach einer Roten Karte für den Gast eine Viertelstunde vor Schluss entschieden. Und Ohe enttäuscht auch in der zweiten Halbzeit nicht. Konterchancen werden aufgezogen und mit einem Mann mehr auf dem Feld versüßt man den frierenden Anwesenden durch zwei weitere Tore zum Endstand den Brückentag. Auch mit dem Publikum komme ich ins Gespräch und neben mir steht ein Mann in meinem Alter, der sich als Kaderspieler der Oher entpuppt und von dem sich herausstellt, dass er das Fußballspielen teilweise von und mit den gleichen Trainern und Mitspielern erlernt hat wie ich. Der Gute erzählt mir alles über das spielende Personal der Oher und nebenbei bechert er ein paar „gute Tropfen“ weg.
In die Spitzengruppe der Landesliga hätte ich es als Aktiver wohl nicht geschafft. In Reinbek wäre ich sicher trotzdem willkommen. FC Voran Ohe – ein Wohlfühlverein auf solidem Trinkerniveau, der nicht aufzuhalten sein wird. Fußball ohne Maske. Und trotzdem erfolgreich. Der Ford-Händler ist mit seinem „Ranger“ am Spieltag darauf übrigens wieder verschwunden.
LENNEP – Remscheid im Oktober: Den ganzen Tag schon regnet es Hunde und Katzen. Und die Angst, diesen historischen Ort wegen einer Spielabsage oder der berühmten Nebenplatzfalle zu verpassen, lässt mich den wackligen Knirps-Imitat-Schirm immer fester umklammern. Vom Bahnhof in Remscheid-Lennep geht es knappe 10 Minuten zu Fuß Richtung Stadion. Die Straße bergab ist ein einziger Rinnsal. Dann endlich erblickt man durch Herbstlaub die alte Tribüne und eine wuchtige Anzeigetafel. Fast noch schöner: Der unverkennliche Soundtrack von typischem Gebolze auf dem Rasen – denn das ehemalige Zweitliga-Stadion punktet mit erstklassigen Bodenverhältnissen, selbst bei Dauerregen. Hier denkt niemand an eine Spielabsage. In Schleswig-Holstein – wo ich herkomme – mit seinen tiefen Marschböden, geht das vielleicht auch schneller. Willkommen im Bergischen Land!
Der Ground ist einfach nur brutal. Ich kann mich noch genau an ein Mannschaftsfoto aus dem Kicker-Sonderheft zu glorreichen Zweitliga-Zeiten erinnern, als man in zeittypischer Mode vor einer Sponsorenwand in einer der Hintertor-Kurven posierte. Carsten Pröpper, Ingmar Putz und Sigitas Jakubauskas standen da in ihren weiß-blauen Trikots und grinsten in die Kamera. Um diese Kurve hat sich seitdem offensichtlich niemand mehr gekümmert. Laubbäume und Gebüsch bahnen sich ihren Weg durch die Ritzen. Und fast könnte man davon sprechen, die Zeit wäre hier stehengeblieben, wenn der Kapitalismus nicht direkt hinter der Kurve für ein amerikanisches Schnellrestaurant mit Gratis-Blick in das Röntgen-Stadion gesorgt hätte.
Alle anderen Bereiche des Stadions sind zugänglich und recht gut gepflegt. Auf ein paar Bänke der großen, überdachten Tribüne sind nachträglich mal blaue Sitzschalen montiert worden. Ansonsten hat sich hier seit der Stadion-Eröffnung 1981 nicht viel getan. Das Röntgen-Stadion ist ein schönes Beispiel dafür, wie einfach und schön ein Fußballbesuch vor 30 Jahren gewesen sein muss. Kurven, Stehplätze, eine überdachte Haupttribüne. Nur Flutlicht fehlt. Das Vereinsheim ist eine Bretterhütte. Eine freundliche Oma steht dort hinter einer gedeckten Kaffeetafel und verkauft Kuchen und Heißgetränke. Ich bin mir sicher, das war vor 30 Jahren schon aus der Zeit gefallen. Hier und da entdeckt man sogar noch den Schriftzug „BVL 08“, wie sich der Verein vor 1990 nannte (BV Lüttringhausen 08). Dann gab es eine Art Fusion mit dem VfB Marathon Remscheid. Es folgte der dritte Aufstieg in die 2. Bundesliga, ehe es steil bergab ging.
Schon seit Jahren soll das Röntgen-Stadion einem Designer-Outlet weichen. Die Verträge sind unterschrieben. Nebenan hat man bereits einen Grandplatz platt gemacht. Scheiß Kapitalismus. Als Ausgleich für das große Stadion, soll sich der FCR einen Kunstrasenplatz mit einem anderen Verein teilen. Was ich aber rausgekriegt habe: Der Verein wehrt sich dagegen und gespielt wird hier ja schließlich immer noch. Was für eine schrecklich zweckorientierte Stadt, könnte einem da in den Sinn kommen. Aber nächste Überraschung: Lennep, das ist die Geburtsstadt von Wilhelm Conrad Röntgen. Alles hört hier auf sein Kommando, sogar das Maskottchen der Remscheider heißt „Rudi Röntgen“. Die Altstadt von Lennep hat sich seit den Lebzeiten des großen Physikers nicht mehr wirklich verändert und ist ein echtes Schmuckstück, mit ihren schiefergedeckten Häusern und grünen Fensterläden. Würde es nicht regnen, könnte sich das grad auch wie ein Urlaub in der Eifel anfühlen.
Auf dem Rasen geht es in der Landesliga zur Sache. Zu Gast ist heute der Spitzenreiter aus Essen: VfB Frohnhausen. Auch der FCR hat nach zwei schlechten Platzierungen in dieser Liga Kontakt nach oben. Die letzten beiden Heimspiele hat man verloren, heute will man mit Punkten gegen den Tabellenführer die Wende herbeizaubern. Dieses Vorhaben geht zunächst mal grandios in die Hose: Nach ein paar Minuten zeigt der Schiedsrichter auf den ominösen Punkt und es gibt die Gästeführung on top. Die Essener sind physisch sehr stark und minimieren ihr Offensivspiel auf Konter. Remscheid spielt sehr emsig und unermüdlich, scheitert am Aluminium, hat aber auch ein bisschen Glück, dass Frohnhausen nicht noch ein Tor erzielt.
In der Halbzeit wechsel ich – wie fast immer – die Seite. Auf der großen Tribüne ist etwas mehr los. Remscheid kommt wieder sehr motiviert aus der Kabine. Was ich nicht wusste: Ich bin in einer kleinen Support-Area gelandet. Im ersten Abschnitt war es hier stumm geblieben. Nun peitschen ein paar alteingesessene Stadiongänger den ehemaligen Zweitligisten nach vorne – ich bin mittendrin. Und die Mannschaft hat richtig Bock auf Fußball! Ein Angriff nach dem nächsten wird aufgezogen. Man fragt sich, wie der Gast es an die Tabellenspitze geschafft hat. Die Heimtore sind nur eine Frage der Zeit und nach gut einer Stunde Spielzeit lochen die Röntgenstädter den Ball endlich ein und erlösen das Publikum mit dem Ausgleich. Vielleicht war das Abseits, aber einen Videobeweis gibt es hier zum Glück nicht. Die Show geht weiter, Frohnhausen ist platt. Vorläufiger Höhepunkt: Ein Remscheider drischt einen vermaledeiten Torwartabstoß volley Richtung Tor und trifft den Pfosten – bumm! Gerade mal 200 Zuschauer und ’n paar Flaschen Bier, aber das Röntgen-Stadion ist ein Tollhaus!
Der FCR lässt nicht locker: Nach einer Unaufmerksamkeit fällt der völlig verdiente Führungstreffer! Die jubelnden Spieler sprinten Richtung Zaun und Zuschauer. In der 2. Bundesliga kann das nicht besser gewesen sein. Aber Frohnhausen ist Tabellenführer. Und das eben doch nicht zu Unrecht. Ein paar Minuten verbleiben und plötzlich ist die Moral wieder auf Seiten der Gäste. Mit der einzigen Chance im zweiten Abschnitt, wuchtet ein Frohnhausener den Ball nach einer Ecke per Kopf ins Tor. Rückschläge gehören bei großen Fußballspielen dazu. Den letzten Sturmlauf der Gäste übersteht der FCR und nach dem Schlusspfiff gibt es fast minutenlangen Applaus von uns.
Im Vereinsheim ist man sichtlich stolz auf die Historie des Vereins, überall hängen Mannschaftsfotos und Plakate aus großen Tagen. Das Bier ist zehn Minuten nach dem Abpfiff ausverkauft, aber in der Bretterbude liegen noch ein paar ältere Exemplare der Vereinschronik herum. Nachdem ich irgendwie als „Durchreisender“ enttarnt werde, darf ich mir eine Chronik als Geschenk einpacken. Ich bekomme sogar noch einen kleinen Wimpel mit, die Oma hinter der Kaffeetafel sagt: „Der ist mal in der Waschmaschine gelandet, aber noch gut“. Stimmt. Sonstige Fanartikel sucht man beim einstigen Zweitligisten vergeblich. Trotzdem war das heute einer der besten Groundhopping-Moves, die ich jemals gemacht hab.
„DER KACKGROUND DES JAHRES – ODER: EINFACH NUR BOCK AUF FUẞBALL!“
LÜBECK – Der letzte von drei Vereinen, der seine Spiele vollmundig auf dem „Buniamshof“ – dem zweitgrößten Stadion Lübecks – ankündigt, sollte an diesem Donnerstag meine Aufmerksamkeit verdienen. Dass es um diese schöne Anlage herum so leer geworden ist, war mir bis dato nicht bewusst. Trug doch die U23-Elf des VfB Lübeck in der letzten Rückrunde einige Spiele auf dem „Buni“ aus und fungierte das Stadion auch als Heimat der DJK Lübeck. Geblieben ist einzig und allein Roter Stern. Der VfB ist zum Nebenplatz auf die Lohmühle zurückgekehrt, DJK hat aktuell keine Mannschaft gemeldet.
Der Ground liegt sehr stadtnah, direkt an der Trave, neben der Altstadtinsel und im Schatten des Doms. Eine Tribüne mit gezacktem Dach fällt ins Auge und viele alte Treppen und Stufen. Im Hintergrund die Kirchtürme der Stadt – das Stadion ist ein unterschätzter Hingucker. Bei der Lage des „Buni“ schlägt man in Verwaltung und Exekutive jedoch mehr und mehr die Hände über den Kopf zusammen. Na klar: Was vor 100 Jahren kein Problem war – Massenveranstaltungen vor Tausenden Zuschauern – könnte heutzutage auf so engem Raum das Jüngste Gericht auf den Plan rufen. Und so finden in dem Stadion höchstens unbeachete Leichtathletik-Events statt. Und halt so ein Kreisliga-Käse.
Für ein Spiel in der Kreisklasse – um korrekt zu bleiben – gibt es ausreichend Parkplätze direkt neben der Tribüne. Sensibilisiert von der Panikmache rund um die Platzknappheit in der Altstadt, suche ich mir vorher aber zu Unrecht lieber ein Parkplätzchen in einem nahen Parkhaus. Das kostet mich ein paar Euro, allerdings erhebt Roter Stern für diesen Kreisklasse-Schmankerl auch keinen Eintritt. Also, geschenkt. Es dauert, bis ich den Eingang zum Rund finde und auf dem Platz erspähe ich nur Läufer. „Fußball findet da hinten statt“, rufen die mir hinterher. Na, das war ja klar. Kreisklasse auf dem Nebenplatz. Herzlich willkommen auf dem Kackground des Jahres: Kunstrasen mit gelben Linien für den Fußball und weißen Markierungen für American Football. Der Platz sieht aus wie ein Schlangennest. Es sind über den Toren auch Field Goals aufgestellt. Roter Stern teilt sich den Platz mit den „Lübeck Cougars“. Und damit nicht genug: Direkt hinter dem Tor hat der „Kanu Club Lübeck“ seine Zelte aufgeschlagen und macht das in großen Lettern überdeutlich kenntlich. Fußball, Kanu, Football. Selten so einen beschissenen Platz gesehen. Fast schon wieder geil, wenn da nicht nebenan das Stadion sein Leichtathletik-Dasein fristen würde.
Bevor ich allerdings den American-Football-Kanu-Platz erreiche, verkrieche ich mich doch noch schnell im eigentlichen Stadion auf den überdachten Trainerbänken – der Himmel hat nämlich seine Schleusen geöffnet und es regnet in Strömen. Der Anpfiff rückt immer näher, aber da ich meinen Regenschirm vergessen habe, würde ich lieber die ersten Minuten verpassen, statt pudelnass zu werden. Über Ausbau geschweige denn Überdachung verfügt der Kunstrasenplatz selbstredend nicht. Die Regenhusche ist dann doch so schnell vorbei, dass es sogar noch für eine Bockwurst mit Ketchup vor dem Spiel reicht – Senf ist dem tapferen, aber schweigsamen Kiosk-Betreiber ausgegangen. Immerhin gibt es neben überteuertem Roter-Stern-Merch auch kaltes Bier und ein paar Schokoriegel.
Tapfer, weil sich zunächst natürlich kaum eine Menschenseele zu diesem Kick verirrt. Nach und nach werden es aber mehr Zuschauer. Und auf den zweiten Blick kristallisiert sich echtes Qualitätspublikum unter den Zuguckern heraus: Zahnlose Typen, Pils-Legenden und lustige Deutsch-Türken. In der zweiten Halbzeit verlasse ich meinen eigenbrötlerischen Platz fernab der Zivilisation und rücke immer näher an den Mob heran. Irgendwann zähle ich immerhin rund 50 Leute auf der Anlage. Das Spielgeschehen ist lange trostlos. Keiner hat eine rechte Idee, aber jeder kloppt gerne den Ball in den Abendhimmel. Als ein Mann eingewechselt wird, der vorher einsam seine Runden auf dem Grandplatz nebenan gedreht hat, kommt etwas Spielkultur auf die Plastikhalme. Und siehe da: Nach einer sehenswerten Aktion steht es irgendwann 1:0 durch den einsamen Läufer. Roter Stern erhöht sogar noch auf 2:0 und einem gelungenen ersten Heimspiel der Saison, steht nicht mehr viel im Wege.
Der Mob kommt auch immer besser in Fahrt. Es gibt einen echten Publikumsliebling bei den Roten: Hassan. Ein kleiner, wendiger Stürmer, dem fast jeder Ball vom Fuß springt. Nachdem Hassan ausgewechselt wird kommen die Jungs so richtig in Fahrt. „Wir wollen (den) Hassan sehen!“ krakeelt es in kunterbunten Tonfolgen immer wieder aus geölten Kehlen. Da der Chor trotz Countdown immer wieder etwas misslingt, sorgt die Forderung nicht nur bei mir für Heiterkeit. Die ganze Szene ist so lustig, dass ich mich am Ende sogar in der Laola-Welle für Hassan entdecke.
Irgendwann werde ich gefragt, warum hier bin, doch mir wird die Antwort schon vorweg genommen: „Weil du einfach Bock auf Fußball hast, oder?“. Besser hätte ich es nicht ausdrücken können. Da ändern auch die drei Viktoria-Tore in den letzten Minuten nichts dran. Erst sehenswert in den Winkel geschlenzt, das Siegtor dann aber über die Linie gestochert. Egal. Das Ergebnis ist nur Nebensache auf dem Nebenplatz. Und nach Field Goals hat Roter Stern das Ding immerhin mit 20:3 gewonnen.
BÜCHEN – Spiel zweier monströser Namenskonstrukte mit Besonderheiten: Eines von drei Lauenburger „Derbys“ in der diesjährigen Landesliga Holstein. Wobei letztes Jahr gar keine Lokalspiele stattfanden: Büchen stieg genauso wie der dritte Verein aus dem Herzogtum – der Breitenfelder SV – in die 6. Liga auf. Was als höchster BSSV-Erfolg seit Jahrzehnten gewertet werden kann. An einem Donnerstag sollte das erste Heimspiel nach dem Aufstieg im schönen Waldstadion ausgetragen werden. Was vielen Hoppern nicht unentdeckt blieb. Büchen deckt mit seinem Knotenpunkt-Bahnhof nicht nur den Schienenverkehr zwischen Ost und West ab, sondern nimmt mit seinem Büchen-Siebeneichener Sportverein (Siebeneichen ist ein kleines Dorf in unmittelbarer Nähe zum Elbe-Lübeck-Kanal) auch die Rolle als zentraler Sportverein zwischen Schwarzenbek und Lauenburg ein. 14 Mannschaften hat man aktuell im Spielbetrieb. Dabei wurde jetzt im Sommer sogar die dritte Mannschaft und zuvor die legendäre „Goldene IV. Herren“ abgemeldet.
Die Anlage verfügt über mehrere große Funktionsgebäude, einem Kunst- und einem Naturrasenplatz. Gespielt wird schleswig-holstein-like auf echtem Gras. Eine Tribüne bietet dabei Überdachung und befindet sich genau zwischen den beiden Plätzen, so dass für beide Beläge der Komfort nicht zu kurz kommt. Rundherum zieht sich idyllisch dichte Bewaldung um den Platz, hinter deren Wipfeln langsam die Sonne verschwindet. Kreisweit sicher einer der schönsten Anlagen. Rund 200 Zuschauer haben sich eingefunden um den Aufsteiger nach vorne zu peitschen. Es winkt die Tabellenführung, nach den ersten drei Punkten auf fremdem Platz, bei Mit-Aufsteiger Kisdorf am letzten Wochenende. Auch aus der anderen Ecke des Kreises sind einige grün-weiße Leute mitgereist, die den Pfiffen auf dem Platz 90 Minuten grundsätzlich konträr gegenüberstehen. Eigentlich nicht erwähnenswert, da sich das Rudel aber bei mir eingefunden hat, nervt es zusehends, was meinerseits nicht unkommentiert bleibt.
Auf dem Platz macht Büchen von Anfang an die Musik – und das 1:0 per sehenswertem Direktschuss durch den emsigen Marwin Schantz. Wendige, flinke, motivierte Truppe, die in dieser Verfassung nicht umsonst als Geheimtipp in der Liga gehandelt wird. Allerdings hat auch Siebenbäumen so seine Stärken: Gute Einzelspieler, robust und erfahren. Vor allem die Akteure: Paulsen, Fiedler und Todt fallen auf. Während Paulsen eine blitzsaubere Partie abliefert, treffen sowohl Fiedler zum Ausgleich, als auch Todt zur zwischenzeitlichen Führung. Maurice Fiedler, ein baumlanger, beweglicher Stürmer, keift später noch gut hörbar für alle Zuschauer den Mann in Schwarz an: „Ey Schiri, bist du blind oder was!?“. Rote Karte. Passt zum Gesamtbild der Grün-Weißen. Trotz Rückstand ist hier lange noch nicht Schluss. Büchen kämpft sich in die Partie zurück und erzielt folgerichtig noch drei verdiente Treffer per Weitschuss-, Traum- und Kontertor. Bevor die Mannschaft gleich ein gebührendes Tänzchen zur Tabellenführung auf dem schweren Geläuf zelebriert, führt ein Tempogegenstoß von einem Spieler mit amtlichem Landesliga-Bauch noch zum 4:2-Endstand – runde Sache.
HAMWARDE – Auftakt zu einer pickepackevollen Fußballwoche in der Provinz: Hamwarde, ein kleines Dorf hinter Schwarzenbek, in dem es auch schon mal, naja, nach Tieren riechen kann. Der Verein bietet „Fußball an der Mühle“ an und empfängt an diesem Dienstag-Abend den haushohen Favoriten vom VfL Lohbrügge zur zweiten Runde im Landespokal. Der VfL war erst im Relegationsspiel an Union Tornesch am Aufstieg in die Oberliga gescheitert. Hamwarde schlug in der ersten Runde den Lohbrügger Landesliga-Konkurrenten V/W Billstedt mit 1:0 und krebst sonst im Mittelfeld der Kreisliga herum.
Das Ergebnis aus der 1. Runde des Pokals lässt aufhorchen und pünktlich zum Feierabend blinzelt endlich wieder die Sonne durch das Wolkennest. Mit einem perlenden Alsterwasser in der Hand wird die Anlage in Augenschein genommen, die für einen Dorfsportplatz gute Argumente zu liefern weiß: Hanglage mit Stufenausbau und ein paar Parkbänke, auf die ich mich niederlasse. Altes, verranztes Vereinsheim mit historischen Mannschaftsfotos an den Wänden, neues Funktionsgebäude und ein paar nette Details, wie eine funktionstüchtige Turnhallen-Anzeigetafel und ein ausrangiertes Tor, das man mit Plane überzogen hat uns seitdem als „Westkurve Hamwarde“ fungiert. Die Westkurve bleibt unbesetzt, die Anlage füllt sich aber nach und nach mit den Dorfbewohnern. Unter ihnen eine bemerkenswert hohe Hübsche-Mädchen-Quote.
Lohbrügge punktet mit reichlich Ballbesitz und auffallend viele Spieler, deren Namen auf -ic enden, glänzen durch akurate Ballbehandlung. Im Begleitheft zum Spiel (einem Sonderheft der Bergedorfer Zeitung für die Mannschaften aus dem Osten Hamburgs) wird der VfL-Kader mit dem von Bayern München verglichen… Das Spiel ist eher ausgeglichen und arm an Torchancen. Die besseren Möglichkeiten hat Hamwarde. Für einen Fast-Oberligisten ist das schon sehr harmlos, was die Gäste anbieten. Es geht mit einem torlosen Unentschieden in die Pause. Ähnliches Bild im zweiten Durchgang. Der SVH spielt sehr aufgeweckt und irgendwann nutzt man tatsächlich die Chance zum 1:0, die durch einen schnell ausgeführten Einwurf zu Stande kommt und vom Außenbahnspieler aus spitzem Winkel ins Tor gejagt wird. Die Luft wird anschließend immer dünner für den Kreisligisten, Lohbrügge passt sich unaufhörlich den Ball zu. Abgesehen von einem Lattenschuss vor dem Rückstand, kommt es aber kaum mal zu einer gefährlichen Situation. Trotzdem ist die Spannung zum Greifen nah, wie man immer so schön sagt. Kompliment an die organisierte Leistung im Defensiv-Verbund der Lauenburger. Unglaublich, wie viele Bälle man in der Luft klärt. Selbst die berühmte Bierkiste hätte Hamwarde heute lässig aus dem Strafraum geköpft.
Sogar ein Platzverweis der Hausherren kann die Blamage für den Landesligisten nicht abwenden. Ein übles Foul wird erst mit der Gelben Karten geahndet. Als schon zwei Minuten vergangen sind und der Gästespieler den Freistoß kurz vor der Strafraumkante durchführen will, winkt der Schiri den SVH-Spieler nochmal zu sich, ich höre die Worte: „…ich hab’s mir nochmal anders überlegt“, dann gibt es doch noch den Roten Karton für den Kreisligaspieler. Die Stimmung in den letzten Minuten ist etwas aufgebracht, es gibt euphorische Anfeuerungsrufe (HAM-WAR-DE!) von den Rängen und großen Jubel, als der Schlusspfiff ertönt. Eine echte Überraschung! Jeder kennt hier jeden – kurze Zeit später vermischen sich die Akteure und Zuschauer zu einer Einheit. Während sich die hochgehandelten Landesliga-Spieler auf „Serbo-Kroatisch“ zanken oder hinter dem Funktionsgebäude rauchen.
Ein paar Tage später fegt der VfL im Liga-Betrieb den TuS Berne standesgemäß mit 7:0 vom Platz und Hamwarde verliert das nächste Spiel zu Hause gegen den SC Wentorf II mit 1:2. Manchmal ist man halt zur richtigen Zeit am richtigen Ort. In der dritten Runde hat der SVH übrigens ein Freilos gezogen. Ein weiterer Schritt Richtung Europapokal.
HEIDE – Es gibt viele Faktoren, die einem den Stadionbesuch verhageln können. Meine Losung an diesem Mittwoch vor Himmelfahrt lautet: Stau, Parkplatz, Ticket. In dieser Reihenfolge. An Zeitpuffer nur mit dem Nötigsten ausgestattet, doch die ersten beiden Hindernisse anschließend erstaunlich gut meisternd. Der übliche Stadtverkehr in Hamburg zwar nervig, aber nicht existenzbedrohend. Rasch ein perfekter Parkplatz beim Nachbarverein MTV Heide gefunden, das kann ja nicht mit rechten Dingen zugehen. Und da war sie, die 200-Meter-Schlange vor dem ehrwürdigen Stadion an der Meldorfer Straße. Ein einziger Rentner auf einer Bierzeltgarnitur fertigt über 3000 Zuschauer ab und händigt Tickets im Schneckentempo aus. Preis‘ den Herrn, alles hat seine Richtigkeit!
Glück gehabt, dass das entscheidende Spiel um den Regionalliga-Aufstieg in Heide stattfindet und nicht in Bremen. Denn südlich von Hamburg stapeln sich die Autos und auch der harte Kern der BSV-Fans trudelt erst kurz vor der Halbzeit ein. Der Elbtunnel – heute ein härterer Gegner als der HSV? Im Fanblock der Bremer sind alle blau: Fahnen, Spruchbänder, Undercut, Alkohol und Altona 93. Der BSV kann sich über Unterstützung aus Hamburg freuen – an den rund 100 Fans wird es heute gewiss nicht liegen. Trotz Verspätung. Ich nehme meinen Platz eine Minute vor dem offiziellen Anpfiff ein. Organisatorisch läuft heute wie gedacht nicht alles rund und der erste Pfiff verspätet sich nochmal um rund 10 Minuten. Wozu also all die Aufregung? Der Sieger des Spiels steigt in die Regionalliga auf. Lang ersehnt, wie im Falle der Bremer. Oder überraschend, wie im Falle der Heider. Letztere gehen zudem mit dem Vorteil ins Spiel, dass ein Unentschieden zum Upgrade reicht. Und das obwohl sie in der vergangenen Saison nicht über Platz 4 in der Schleswig-Holstein-Liga hinaus gekommen sind.
Das „Stadion an der Meldorfer Straße“ ist die „Perle der Westküste“ und eines der ganz wenigen Groundhopper-Ziele im nördlichsten Bundesland der Republik, das sich über stetige Beleibtheit erfreut. Der kleine HSV verfügt über eine große Vergangenheit: Nach dem Krieg wurde hier erstklassig in der Oberliga Nord gekickt, sogar bis in die 60er-Jahre. Hannover 96, Werder Bremen und auch der große HSV bezogen an der Meldorfer Straße das ein oder andere Mal Haue. Und unter Sepp Herberger stellten die Dithmarscher sogar Nationalspieler im Kader der Auswahlmannschaft. Lange vorbei – aber aus dieser Zeit stammt das kleine Stadion der Heider, das als reines Fußballstadion punktet und über ganzseitigen Stufenausbau verfügt. Als das überragende Element der Anlage und sofortiger Blickfang wird eine Sitzplatz-Tribüne in Trapezform ausgemacht, an der unübersehbar der Zahn der Zeit nagt und die immer mehr liebevolle Details offenbart, je näher man ihr kommt.
Die Tribüne ist ausverkauft und auch sonst ist Fußball vor einer vierstelligen Kulisse hier ein ganz großer Geheimtipp. Der HSV trägt an diesem Tag sein größtes Spiel seit 1997 aus, als man gegen Arminia Hannover in einem ähnlichen Aufstiegsspiel zu Hause mit 0:4 unter die Räder geriet. Damals kamen sogar weit über 5000 Zuschauer. Das größte Spiel des Jahrtausends also. Das sieht man den Heimkickern an, die das Spiel kontrollieren wollen, ihre Nervosität allerdings nicht verbergen können. Bremen kommt immer besser ins Spiel und ein verunglückter Befreiungsschlag landet Mitte der ersten Halbzeit vor den Füßen des BSV-Zehners, der sich nicht bitten lässt und locker unten links einschiebt.
Auch das Publikum ist etwas nervös und irritiert. 2500 von ihnen sind bestimmt schon sehr lange nicht im Stadion gewesen. Ich muss einigen Besuchern die Aufstiegsregeln erklären. Als Heide Ende der Halbzeit dann aber ein bisschen besser ins Spiel kommt, gerät nun endlich das Publikum in Wallung und das Vereinskürzel „HSV“ ist ein praktischer Anfeuerungsruf. Nun werden auch die Trommelstöcke im Bereich des HSV-Supports auf der Gegengerade geschwungen, der sich „Schwarzhosen-Block“ nennt. Der BSV zuletzt drei Mal in dieser Aufstiegsrunde gescheitert, drängt auf’s zweite Tor und ist spielerisch überlegen. Es fehlt das zwingende Element vor dem Tor. Und dann ist es so weit: Nach rund einer Stunde nutzt Heide die bis dahin fast einzige Chance, die noch dazu eigentlich gar keine ist: Ein Freistoß aus 25 Metern touchiert die Unterkante der Latte und zappelt im Netz. Der frenetische Jubel wird von rund 100 Personen flankiert, darunter viele Kinder, die quer über’s Spielfeld zur Spielertraube laufen. Der Schiedsrichter droht mit Spielabbruch.
Ein großer Moment. Der prognostizierte Jahrhundert-Moment. Denn spätestens danach ist das Ding irgendwie gelaufen. Jeder hat die letzten Bremer Ergebnisse der Aufstiegsrunden im Hinterkopf, die Trainerbank ist bedächtig ruhig. Und auch wenn die Blauen Druck machen, den Ball so einige Male hinter die Abwehr schlagen – die Spannung ist nur pro forma. Die Nerven bei den Gästen liegen blank: Ein Bremer Anhänger zettelt Streit auf der Tribüne an. Die Polizei kommt. Und nächste Saison kommen dann sicher Zäune für den Gästeblock… In der Nachspielzeit gibt es diesen Messi-Moment aus dem WM-Finale: Der flattrige Heider Torwart irrlichtert durch den Strafraum, aus dem Gewühl kann ein BSV-Akteur auf’s leere Tor schießen und zielt ein paar Meter drüber. Danach weiß jeder im Stadion: Wir sind Weltmeister.